Editorial

Warum lässt ein Baumliebhaber Bäume verhungern und verdursten?

Von Henrik Hartmann, Jena


Essays

(03.07.2018) Jedes Kind hat im Wald schon mal einen toten Baum gesehen. Wie Bäume sterben, wissen aber selbst Baumphysiologen nicht genau. Henrik Hartmann will es in den „Jenaer Folterkammern“ herausfinden.

Die Antwort auf die Frage, warum ich Bäume verhungern und verdursten lasse, lautet in Kurzform: „Weil Bäume einfach wundervoll sind.“ Die Frage ist durchaus berechtigt und wird mir oft gestellt. Unter Kollegen bin ich ohnehin seit langem als „Tree killer“ verschrien. Ich gebe es auch zu, ja, ich töte Bäume (und auch andere Pflanzen) und nicht nur das, ich foltere sie geradezu!

Meinen Versuchsaufbau im Gewächshaus des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie in Jena nenne ich etwas ironisch-sarkastisch die „Jenaer Folterkammern“. Dort lasse ich Bäume verhungern, indem ich der Luft fast das gesamte CO2 entnehme, wodurch die Bäume keinen Zucker mehr bilden können. Oder ich lasse sie gemächlich vertrocknen, um sie dann beim langsamen Verwelken und Absterben zu beobachten. Ich habe schon Vorträge auf internationalen Konferenzen mit dem Titel „Killing in the name of science“ gehalten. Das klingt etwas nach Rechtfertigung, ist es vielleicht auch, beschreibt aber den Sinn meines niederträchtigen Tuns recht gut.

Nun fragen Sie sich bestimmt, ob ich eine schlimme Kindheit hatte, vielleicht sogar einer dieser abscheulichen Kätzchen-quälenden Bengel war, deren düstere Zukunft schon früh besiegelt schien. Das ist natürlich Unsinn. Pflanzen schreien ja nicht einmal unter Qualen, das macht das Foltern wenig aufregend. Ich töte und quäle, denn ich bin „Necrophytologist“ (Necro = tot, Phytologist = Pflanzenwissenschaftler), und befasse mich demzufolge mit dem Tod von Pflanzen. Aber, ich töte nicht nur im Namen der Wissenschaft, sondern auch im Namen des Lebens – und insbesondere im Namen meiner wundervollen majestätischen Freunde, der Bäume.

Aber nun mal ganz von vorne. Ich war als Kind weder ein Katzenquäler noch ein Naturfreak. Klar, wir sind oft spielend durch den Wald gezogen und haben dort viele Abenteuer erlebt. Es war immer aufregend in diese Welt einzutauchen, das fühlte ich schon damals. Im Wald gab es Bäche, Felskluften, steile Abhänge, wilde Tiere und vor allem jede Menge Bäume.

Die Region, in der ich groß wurde, ist geprägt von Buchen- und Eichenbeständen, aus denen durch die Bewirtschaftung sogenannte Kathedralenwälder entstanden, die ein hohes Kronendach und wenig Verjüngung im Unterbestand aufweisen. Weite Sicht unter majestätischen Bäumen, da wird der Wald zum Wallfahrtsort der Seele, ein Petersdom der Natur sozusagen, einfach atemberaubend. Wir merkten aber auch, dass der Wald das Klima beeinflusste. War es im Sommer „draußen“ heiß und stickig, so war es im Wald eher warm und frisch. Im Winter dann das Gegenteil: Wenn auf dem Feld der kalte Wind auch die dickste Jacke durchdrang, war es im Wald viel angenehmer zum Spielen. Kurzum, Wälder haben schon immer eine gewisse Anziehungskraft auf mich ausgeübt, ich war mir dessen als Kind aber nicht wirklich bewusst.

Das „Bewusstsein Wald“ erlangte ich erst viel später. In der Zwischenzeit war ich ein erwachsener Mann, der nach Abschluss seines Militärdienstes als Panzergrenadier, nicht ganz sicher war, was er mit seinem Leben anstellen sollte. Meine Kindheit war geprägt vom Kalten Krieg und dem Deutschen Herbst und mir war nicht ganz klar, welche Rolle mir in dieser Gesellschaft zukommen sollte. Nachdem ich die Folgejahre des Mauerfalls in Berlin verbracht hatte, beschloss ich mit Seesack über der Schulter und beflügelt von jugendlichem Leichtsinn meine deutsche Heimat zu verlassen und wanderte nach Amerika aus, genauer gesagt, nach Kanada.

Nach einer erlebnisreichen Reise per Anhalter durch die USA ließ ich mich in Quebec in einer einsamen Hütte im Wald nieder. Da gab es nicht viel, nicht mal fließendes Wasser, geschweige denn Strom oder Telefon. Mit meinen Ersparnissen kam ich weit, die Nahrung kam direkt vom Bauern: fünfzig Kilogramm Säcke mit Möhren, Kartoffeln, Steckrüben und Soja waren meine Nahrungsgrundlage. Das Leben war geprägt vom Notwendigsten, dem Essentiellen – Holz machen, heizen, kochen, Wasser holen. Ich war viel allein, schrieb viele Briefe, sogar eine Kindergeschichte. Um den Kontakt mit der Welt nicht ganz zu verlieren, hatte ich mir ein Radio mitgenommen, das an eine Autobatterie angeschlossen war, ansonsten gab es nicht viel. Bis auf Wald, viel Wald, um meine Hütte herum.

Die Notdurft musste natürlich auch im Wald verrichtet werden. Für einen Straßenlaternen-gewohnten Mitteleuropäer waren diese nächtlichen „Austritte“ einfach beeindruckend. Durch die fehlende Lichtverschmutzung waren am Firmament nicht Tausende sondern Millionen von Sternen sichtbar, alles klar und deutlich, wunderschön. Nordlichter, ein wahres Spektakel! Doch dann knackte es im Unterholz und sofort kamen alle Instinkte in Wallung: Was war das? Ein Hase, ein Fuchs oder etwa ein Bär? Nein, ein Bär wäre wuchtiger, es muss was anderes sein!

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Solche und andere Erlebnisse, wie etwa ein paar Jahre später die Geburt meiner ersten Tochter mit mir als Hebamme, prägten meinen Charakter und ich entwickelte eine sehr enge Bindung zu meiner Umgebung. Der Wald wandelte sich langsam und aus etwas Unheimlichem wurde mehr und mehr etwas Geheimnisvolles. Ich begann meine Beobachtungen im Wald gedanklich zu thematisieren. Warum wachsen an einer Stelle nur Buchen, an einer anderen nur Zuckerahorn und an der nächsten nur Fichten? Ich wurde neugierig und wollte wissen, wie das System Wald funktioniert.

Aufgewachsen und erzogen im 20. Jahrhundert wurde ich mir langsam bewusst, dass ich die Zeit nicht zurückdrehen konnte. Meine intellektuellen Ansprüche, lange Zeit unterdrückt durch die Aufgaben der täglichen Selbstversorger-Routine, meldeten sich zurück und wollten erfüllt werden. Unter diesem Wandel entfernte ich mich allerdings nicht vom Wald, sondern näherte mich ihm auf eine andere, intellektuelle Weise. Also beschloss ich, eine Ausbildung zum Forstwart zu machen.

Meine Lehre war sehr spannend, ich lernte den Wald zu vermessen, Holzvolumen zu schätzen, Bäume auf ihre Qualität für die Verarbeitung zu Sägeholz zu beurteilen. Aber auch Verjüngungsdynamiken wurden uns aufgezeigt, natürliche Abläufe, die den Wald zu dem machen, was er ist: Ein sich selbst erneuerndes und selbsterhaltendes System, eine Art Superorganismus.

Viele meiner Fragen zum Thema Wald blieben jedoch unbeantwortet. Warum dominierte zum Beispiel in einer Gegend der Ahorn und in einer anderen die Buche, obwohl doch beide Arten hier scheinbar wachsen konnten? Von meinen Ausbildern bekam ich immer öfter die Antwort: „Das können sie dir vielleicht an der Uni beantworten.“

So war der nächste Schritt vorgezeichnet, ein Bachelor in Forstwissenschaften. Auch hier lernte ich viel, und mir wurde vieles klar. Etwa, dass die Dominanz einer Art nicht nur davon abhängt, wie gut sie an einem Standort wachsen kann, sondern auch, welche Vorgeschichte der Standort hat. Wurde hier bereits Bestandspflege betrieben? Gab es natürliche Störungen, die eine Art mehr als die andere betrafen?

Ich versuchte, die zeitliche Dynamik des Waldes zu verstehen, Abläufe, die wir Menschen oft nicht wahrnehmen können, weil wir nicht so alt werden wie Bäume. Wir Menschen folgen daher der Tendenz, den Wald als statisches System zu betrachten, als etwas, das sich nicht ändert und daher auch nicht ändern sollte. Doch das ist ökologisch gesehen völlig falsch und kommt dem Tod des Naturwaldes gleich. Der Wald muss sich ändern, er muss gestört werden, manchmal sogar zurückgesetzt werden durch Brand oder Krankheit, damit erneuernde Prozesse wie zum Beispiel Nährstoffeinträge und Artenabfolgen wieder neu, und manchmal verändert, ablaufen können. So wurde der Horizont meines Wald-Bewusstseins immer weiter.

Doch auch hier stieß ich an Grenzen. Forstwissenschaft dient hauptsächlich der Bewirtschaftung des Waldes, nicht unbedingt dem Verständnis. Im Rahmen meiner Bachelorarbeit kam ich dann mit der Wissenschaft in Berührung. Während die meisten meiner Kommilitonen Waldbewirtschaftungspläne für den einen oder anderen Waldbesitzer, oft aus eigener Familie, erstellten (gähn, ist das langweilig), befasste ich mich mit der Mortalität von Bäumen. Denn gerade hier sind die Wissenslücken am größten. Ein toter Baum ist für den Förster oft nur ein Verlust und verringert den Wertzuwachs. Für den Waldökologen hingegen ist jeder Baumtod auch der Anfang eines neuen Lebens. Der freiwerdende Raum wird durch andere Bäume eingenommen, das langsam vermodernde Holz dient als Nährstofflager für Sämlinge, die auf dem feuchten Grund des faulenden Holzes keimen und gut gedeihen. Diese Erkenntnisse verankern sich inzwischen in der modernen Forstwirtschaft. Weiterhin unbeantwortet ist jedoch die Frage, wie Bäume sterben. Versuche haben gezeigt, dass es Seneszenz, im Sinne von programmiertem Tod, bei Bäumen nicht zu geben scheint, sonst gäbe es nicht so viele sehr alte Bäume. Allerdings summiert sich das Risiko bei Bäumen, über Jahrzehnte und Jahrhunderte widrigen Umweltbedingungen ausgesetzt zu sein. Irgendwann kommt es dann doch zu dem entscheidenden tragischen Ereignis – Blitzschlag, Windwurf oder Krankheit.

In den vergangenen Jahrzehnten wurde immer öfter beobachtet, dass Bäume und Wälder durch den Klimawandel neuen Risiken ausgesetzt sind. Häufigere und länger anhaltende Trockenperioden, einhergehend mit Hitzewellen, führen weltweit zu großflächigem Absterben von Baumbeständen und ganzen Waldgebieten. Allein im kanadischen British Columbia wurden im Zeitraum von 1999 bis 2015 unter Mitwirken des Borkenkäfers mehr als 16 Millionen Hektar Wald zerstört. Das entspricht der Fläche Thüringens und ist größer als der gesamte deutsche Wald (11,4 Millionen Hektar).

Die bei einem derartigen Absterben ablaufenden Prozesse sind komplex. Bäume interagieren mit ihrer Umwelt und den darin agierenden Faktoren wie zum Beispiel dem Borkenkäfer, die wiederum sehr spezifisch auf Veränderungen der Umwelt reagieren. Dies macht Kausalisierungen oft sehr schwierig und hemmt das Erlangen von grundlegenden Erkenntnissen. So ist etwa weiterhin weitgehend ungeklärt, welche physiologischen Prozesse im Baum bei Trockenstress das Absterben verursachen. Solche Erkenntnisse sind aber wichtig, um mithilfe von Simulationsmodellen Vorhersagen über die Auswirkungen unserer Handlungsweisen (zum Beispiel CO2-Emissionen) auf Waldbestände der Zukunft treffen zu können.

Bäume gibt es seit knapp 400 Millionen Jahren auf unserem Planeten und sie gehören zu den größten und ältesten Lebewesen. Prometheus, eine im wahrsten Sinne des Wortes Langlebige Kiefer (Pinus longaeva), die in 3.000 Meter Höhe in den White Mountains zwischen Nevada und Kalifornien wuchs, wurde 4.862 Jahre alt – bis sie schließlich nicht Wind, Wetter, Krankheit oder gar Waldbrand zum Opfer fiel, sondern einem Studenten der sie 1964 zu Studienzwecken fällte! Der „Trembling Giant“ (zitternder Riese) im US-amerikanischen Utah ist eine Zitterpappel-Klonkolonie von mehr als 43 Hektar Größe. Die dort stehenden circa 47.000 Stämme mit einer Gesamtmasse von mehr als 6.000 Tonnen sind zwar durchschnittlich nicht älter als 130 Jahre – das Alter des Klons, das heißt der Ansammlung genetisch identischer Ableger, wird allerdings auf über 80.000 Jahre geschätzt, einige Schätzungen reichen sogar bis zu einer Million Jahre.

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Bild: Wikipedia

Das sind Maßstäbe, mit denen der Mensch sich nicht messen kann und unsere vergleichsweise kurze Lebenszeit macht Untersuchungen an Bäumen zusätzlich schwierig. Wir werden nicht alt genug, um einen Baum beim Absterbeprozess wissenschaftlich zu begleiten, denn dieser kann sich über mehrere Jahrzehnte hinziehen. Bleibt nur der Ausweg, das Absterben hervorzurufen und zu beschleunigen, etwa durch künstlichen Trockenstress. Dabei können wir Kenntnisse gewinnen, die beim natürlichen Absterben entweder nicht erfasst oder durch andere Faktoren beeinflusst werden. Killing in the name of science!

Bäume haben sich im Laufe der Jahrtausende durch dick und dünn gekämpft. Gehetzt von zyklischen Veränderungen des Klimas und gebeutelt von immer wieder schwankenden CO2-Konzentrationen in der Luft, mussten sie sich immer wieder auf Schutzburgen zurückziehen, Refugien, in denen sie ausharrten – aber immer wieder sind sie zurückgekommen. Bäume sind die wahren Helden dieser Erde: Sie haben nicht nur etliche Eiszeiten und deren unerbittliche Gletscher, riesige Erdhobel, die alles unter sich begraben, überstanden, sondern haben Dinosaurier kommen und gehen sehen. Bäume werden ganz bestimmt auch uns Menschen überleben und noch dann unseren Planeten bevölkern, wenn wir bereits Erdgeschichte sind.

Allerdings scheint die von unseren Machenschaften eingeläutete neue Runde im Ringen um das Überleben auf diesem Planeten, eine schwierige Aufgabe zu werden, denn die neuerlichen Veränderungen von Klima und CO2 schreiten schnell voran. Vielleicht zu schnell für einige unserer heutigen Baumarten – denn Riesen sind eben oft auch etwas behäbig.


Zum Autor

Henrik Hartmann arbeitet als Ökophysiologe in der Abteilung Biogeochemische Prozesse des Max-Planck-Instituts für Biogeochemie in Jena. Mit seiner Gruppe „Plant Allocation“ untersucht er, wie Bäume ihre Ressourcen, zum Beispiel CO2 verteilen, wenn sich die Umweltbedingungen etwa durch Trockenheit verändern. Dabei schreckt er auch nicht davor zurück, Bäume gezielt vertrocknen zu lassen.


Letzte Änderungen: 03.07.2018