Editorial

Die Sache mit dem Telefonbuch – oder ist Abstraktion in der Biologie möglich?

Von Petra Schwille, Martinsried


Essays

(03.07.2018) Ein einfaches biologisches System, das die Komplexität zellulärer Vorgänge auf ein „biologisches Wasserstoffatom“ reduziert, könnte dabei helfen, das Phänomen „Leben“ besser zu verstehen.

Ein beliebter Witz, der bereits seit Jahrzehnten an Universitäten zur Herabsetzung konkurrierender Studiengänge kursiert, beginnt mit der Aufforderung an verschiedene Studierende, ein Telefonbuch auswendig zu lernen. Während sich die offensichtlich souveränere Spezies, üblicherweise Mathematiker oder Physiker, empört nach dem Grund erkundigt, fragt der beflissene Student der Medizin, Pharmazie, oder auch der Biologie, einfach zurück: „Bis wann“?

Natürlich ist das allenfalls mäßig witzig und eine sehr grobe Übertreibung disziplinärer Unterschiede. Trotzdem kann man als jemand, der sich mit physikalisch-quantitativem Hintergrund im Umfeld der Biowissenschaften bewegt, nicht umhin, in deren Charakterisierung als üblen Lernfächern einen wahren Kern zu sehen. Ironischerweise ist die Situation seit dem Übergang der „klassischen“ Biologie zur Molekularbiologie nicht besser, sondern eher schlimmer geworden. Wer immer sich durch aktuelle Übersichtsvorträge oder Artikel zu einem wichtigen molekularbiologischen Thema informieren möchte, wird, wenn er/sie nicht über ein phänomenales Gedächtnis oder unglaubliche Geduld verfügt, sehr schnell zu der Einsicht kommen, dass ein umfassendes Verständnis des Gegenstands völlig unmöglich ist. Jeder halbwegs interessante zelluläre Signalweg, jedes zelluläre Interaktions-Netzwerk stellt sich als Tummelplatz unzähliger Spezies mit kryptischen Abkürzungen dar – wobei selbstverständlich darauf verzichtet wird, sich bei deren Benennung einer verbindlichen Systematik zu bedienen.

Es ist nicht wirklich überraschend, dass der Einzug der Bioinformatik beziehungsweise der Data Sciences in die modernen Biowissenschaften mit besonders großen Erwartungen begleitet wird. Versprechen diese computergestützten Methoden doch Ordnung in den schier unendlichen Wust von Daten zu bringen, den neue, immer präzisere Methoden im Lauf der Jahrzehnte angehäuft haben.

Natürlich herrscht auch in den anderen Naturwissenschaften die Liebe zum Detail. Wer vor hundert Jahren noch dachte, sämtliche Elementarteilchen zu kennen, wäre angesichts unseres heutigen Wissens bestenfalls kleinlaut. Dennoch ist in der Physik und Chemie einerseits der Kanon dessen, was in den Lehrbüchern die letzten Jahrzehnte überdauert hat, deutlich breiter als in der Molekularbiologie. Hierbei hilft natürlich die seit langem eingeübte quantitative Methode der Formulierung – mathematisch gestützte Wahrheiten waren schon immer die langlebigsten.

Zum anderen gelingt es in diesen Disziplinen sehr viel besser, das Wesentliche durch die Abstraktion von Details herauszuarbeiten, die das grundlegende Verständnis eines wichtigen Phänomens verkomplizieren.

Als einfachstes Beispiel aus Schultagen sei der berühmte Massepunkt in der Mechanik genannt. Wer die Beschaffenheit der Materie und deren wichtigste physikalische Zusammenhänge erforschen will, hat mit dem Verständnis des Wasserstoffatoms zunächst einmal ein erstklassiges Rüstzeug. Auch die Chemie beginnt üblicherweise damit, ihre Prinzipien an kleinen Molekülen zu etablieren und die Komplexität der Systeme langsam zu steigern.

Aber in der Biologie sieht es hinsichtlich einer hilfreichen Reduktion des Forschungsgegenstands – der Zelle oder des Organismus – auf molekularer Ebene sehr viel verzwickter aus. Jenseits des zentralen Dogmas und des Aufbaus der biologischen Moleküle und Strukturen ist leider sehr viel Fundamentales trotz (oder wegen) überwältigender Datenlage noch sehr unklar.

Dies liegt daran, dass der Schlüssel zu den besonderen Eigenschaften lebender Materie weniger in deren Aufbau als vielmehr in den Interaktionen der einzelnen Komponenten miteinander zu suchen ist. Hierfür gibt es zwar die Möglichkeit, biochemische Teilsysteme wie Proteine oder DNA aus Zellen zu isolieren und in einer kontrollierten Umgebung einigermaßen quantitativ zu charakterisieren. Das Problem beginnt aber spätestens dann, wenn sich die Frage nach der Relevanz dieses Unterfangens stellt (die ja zumal unter Publikationsgesichtspunkten nicht ganz unerheblich ist).

Hartgesottene Molekular- und Zellbiologen neigen nämlich dazu, dieser Rekonstitution biochemischer Teilsysteme, so handwerklich kompliziert sie auch sein mag, mit dem Diktum eines fehlenden physiologischen Bezugssystems, die Bedeutung für das große Ganze abzusprechen. Die so gewonnenen Aussagen sind dann nicht mehr „nur im Prinzip richtig und in der Wirklichkeit komplizierter“, wie bei der Physik des Massepunkts. Nein. In der biologischen Realität sind sie dann vielleicht überhaupt nicht mehr richtig. Man hat endlich unter großen Mühen einen wichtigen Proteinkomplex aus Zellen gereinigt und zum Beispiel seine enzymatische Aktivität unter definierten Bedingungen quantitativ charakterisiert – aber was heißt das am Ende schon?

Zum einen sind in der physiologischen Umgebung der Zelle oder des Organismus vermutlich so ziemlich alle biochemischen Randbedingungen anders als in unserer schönen Studie. Und zum anderen ist vielleicht gar nicht Protein A das bedeutende, sondern Protein B, C oder D, oder am besten gleich alle zusammen, die wiederum ohne Proteine X, Y und Z ihre Wirkung gar nicht entfalten können. Auch wenn es nicht so sein sollte – falls Gutachter Nummer drei darauf besteht, wird man die nächsten Jahre damit zubringen dürfen, ihn zu widerlegen.

Die an sich sehr dankbare Aufgabe der Abstraktion und Vereinfachung in lösbare Teilprobleme führt zu einem sehr viel grundlegenderen Problem, das die Biologie im Gegensatz zur Physik hat: Durch die unglaubliche Vielzahl der bereits bekannten Komponenten in Zellen und Organismen (von den noch nicht bekannten einmal ganz abgesehen) wird die Aufgabe der Abstraktion zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Idealerweise müsste man sich auf eine Hierarchisierung verständigen, die wichtigere von unwichtigeren Molekülen und Subsystemen unterscheidet, um schließlich bei einer überschaubaren Anzahl fundamentaler Komponenten anzukommen. Viel Glück dabei! Die Definition fundamentaler Komponenten scheitert regelmäßig bereits bei der Beschreibung biologischer Teilphänomene, da bekanntlich jeder selbstbewusste Wissenschaftler dazu neigt, sein neu gefundenes Lieblingsprotein für ein fundamentales zu halten.

Entsprechend entmutigend sieht die Situation bei der Aufgabe aus, so etwas wie einen Kanon an Komponenten zu definieren, auf denen Leben als solches basiert, also die Grundbedingungen jeder Biologie. Daran scheint interessanterweise auch selbst bei eingefleischten biologischen Grundlagenwissenschaftlern derzeit kein gesteigertes Interesse zu bestehen.

Dabei stellt sich doch die Frage, ob die Biologie als Wissenschaft nicht langfristig das Anliegen haben sollte, so etwas wie ein biologisches „Wasserstoffatom“ zu definieren beziehungsweise zu suchen. Mit anderen Worten, ein wirklich einfaches biologisches System, das uns hilft, die spezifischen Charakteristika des Phänomens „Leben“ zu erkunden.

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Und wenn es tatsächlich mit einer überschaubaren Zahl an Komponenten zu realisieren wäre, bestünde im Gegensatz zu reellen biologischen Systemen zumindest die Hoffnung, dieses System nicht nur durchgängig quantitativ charakterisieren zu können, sondern vielleicht sogar seine Gesetzmäßigkeiten aus den Eigenschaften und Gesetzen seiner Bestandteile abzuleiten.

Freilich, dieses hypothetische biologische Minimalsystem wird uns weder in der Krebs- noch in der Alzheimerforschung zum großen Durchbruch verhelfen. Und unsere Freunde und Kooperationspartner in der Pharmabranche oder der Klinik werden sich von einem solchen Vorhaben sicher schulterzuckend abwenden. Auch was die Finanzierung dieser Forschungsarbeiten angeht, sollten wir idealerweise in einem Land arbeiten, das der reinen Grundlagenforschung noch sehr gnädig gesonnen ist. Andererseits aber könnte die Biologie dann tatsächlich den Anspruch erheben, zu den Voraussetzungen ihrer eigenen Wissenschaft vorzudringen.

Ein biologisches Minimalsystem – damit kann sinnvollerweise nichts anderes gemeint sein als eine minimale Zelle. Und die minimale Zelle wiederum kann nur als Ausgangspunkt jeglicher Darwin’scher Evolution verstanden werden und verweist damit auf einen Problemkontext, der sogar über die Anfänge der Biologie hinaus geht: die Frage nach dem Ursprung des Lebens. Denn die hochgradige Komplexität der heute auf der Erde vorzufindenden Lebensformen ist ja nichts weiter als das Resultat eines seit über drei Milliarden Jahren andauernden Evolutionsprozesses – einem Wettbewerb zunächst vermutlich sehr viel simplerer Lebensformen um Ressourcen.

Der Umgang mit dieser Komplexität muss allerdings nicht notwendigerweise ein rein beschreibender sein. Gerade die Bioinformatik gibt uns erstmals Hilfsmittel in die Hände, die Genese der Komplexität, durch Rückextrapolation heute auffindbarer biologischer Moleküle und Funktionen auf gemeinsame Vorfahren und Urformen zu analysieren. Freilich sollte dieses Unterfangen nicht in silico stecken bleiben. Im Sinne einer quantitativ-analytischen Wissenschaft wäre es unabdingbar, die tatsächliche Funktionsweise eines evolutiv rückextrapolierten Systems in der Labor-Realität nachzuvollziehen.

Eine Alternative dazu ist der Weg, den eine steigende Zahl interdisziplinär arbeitender Wissenschaftler mit einer Spielart der Synthetischen Biologie in den letzten Jahren eingeschlagen hat. Ihr Anspruch ist, quasi von unten beginnend (bottom-up) und mit einer rationalen Vorgehensweise, minimale Funktionsmodule zu generieren, die langfristig zu einer minimalen, lebenden Zelle zusammengefügt werden können. Hierbei gelten die gleichen etablierten Kriterien, die auch an lebende Systeme zu stellen sind, wie Selbstorganisation, Metabolismus, Replikation und Evolution.

Das erste europäische Forschungskonsortium mit diesem ambitionierten Ziel wurde 2014 in Deutschland mit MaxSynBio gegründet, einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützten Zusammenschluss verschiedener Forschungsabteilungen der Max-Planck-Gesellschaft [1].

In der Zwischenzeit ist bereits ein weiteres ähnlich großes Konsortium auf niederländischer Seite hinzugekommen [2], und interessanterweise wurde erst vor kurzem in den USA von Seiten der National Science Foundation ein entsprechender Aufruf mit dem Titel „Rules of Life: Design and Engineering of Synthetic Cells and Cell Components“ gestartet. Zumindest hier dürfen wir uns in Europa also einmal zu einer wissenschaftlichen Vorreiterrolle beglückwünschen.

Es wird zwar noch ein sehr langer Weg, bis die Abstraktion in der Biologie tatsächlich ein einfaches lebensfähiges System hervorbringt, wie es das letzte Mal vor Milliarden Jahren existiert haben mag. Aber es besteht Hoffnung – damit diese Witze endlich aufhören.


Referenzen

[1] Schwille, P., Spatz, J., Landfester, K., Bodenschatz, E., Herminghaus, S., Sourjik, V., et al., MaxSynBio Avenues towards creating cells from the bottom up. Angewandte Chemie International Edition, 2018, doi:10.1002/ange.201802288.

[2] ww.basyc.nl/about-basyc/


Zur Autorin

Petra Schwille ist Direktorin der Abteilung „Zelluläre und molekulare Biophysik“ des Max-Planck-Instituts für Biochemie in Martinsried. Ihr Ziel ist es, eine minimale Zelle aus Bausteinen der synthetischen Biologie zu konstruieren, die alle Eigenschaften von Leben erfüllt.


Letzte Änderungen: 03.07.2018