Editorial

"Mehr Licht"

Maßgeschneiderte Multitalente

Von Stefan Dübel, Braunschweig


(12.07.2016) Der langwierige, aber unaufhaltsame Aufstieg der rekombinanten Antikörper zu den Superstars der Lebenswissenschaften.

Essays
Illustration: Fotolia / freshideas

Die Karriere der therapeutischen Antikörper begann bereits vor mehr als 125 Jahren – und das gleich mit einem Paukenschlag: 1890 publizierten der Deutsche Emil von Behring und der Japaner Kitasato Shibasaburō ihr bahnbrechendes Paper „Über das Zustandekommen der Diphtherie-Immunität und der Tetanus-Immunität bei Thieren“, das die Ära der Antiseren einläutete. Die in Tieren hergestellten Antiseren zur Behandlung von Diphtherie und Tetanus fehlten in den nächsten 50 Jahren in keinem Arztkoffer. Wirksamer Bestandteil, wie man heute weiß: Immunglobuline. Der erste vergebene Medizin-Nobelpreis, verliehen 1901 an von Behring – einen ehemaligen Militärarzt, der später als Unternehmer („Behringwerke“) schwerreich wurde – belohnte diese Entdeckung.

Doch die „reichen Schätze“, die sich Paul Ehrlich bereits 1900 von solchen Antikörpern für die Therapie vorgestellt hatte, sollten noch lange auf sich warten lassen. Nicht etwa deshalb, weil Immunglobulin-Moleküle dafür nicht geeignet wären, sondern weil schlicht die Technologie zur definierten Herstellung des „richtigen“ Antikörpers fehlte. Sobald man gegen Diph­therie, Tetanus und andere Erkrankungen, bei denen bis dahin Antiseren gespritzt wurden, impfen konnte, wurde es deshalb wieder still um die Antiseren. Ab Mitte des letzten Jahrhunderts führten spezifische Antikörperpräparationen als Medikamente ein Nischendasein, zum Beispiel in Form von Schlangenbiss-Antiseren in Missionsstationen des Amazonasbeckens. Auch die Erfindung der monoklonalen Antiköper 1975 durch Köhler und Milstein, welche die Forschung so grandios beflügelte, änderte daran zunächst nichts: praktisch alle Therapieversuche mit monoklonalen Maus-Antiköpern scheiterten in der klinischen Phase an starken Gegenreaktionen der Patienten, die ihrerseits Antikörper (HAMA, humane Anti-Maus-Antikörper) gegen das „fremde“ Maus-Eiweiß entwickelten. Eigentlich war das auch nicht wirklich überraschend, da ähnliche Effekte nach wiederholten Gaben von Behring‘s Antiseren gut beschrieben waren („Serumkrankheit“).

All das änderte erst die Gentechnologie. Der rekombinante Antikörper Adalimumab (Markenname Humira) – eingesetzt gegen Arthritis und chronisch entzündliche Darmerkrankungen – ist mittlerweile das umsatzstärkste Protein-Therapeutikum weltweit (Ecker et al, 2015). Auf den folgenden fünf Rängen: ebenfalls rekombinante Antikörper. Eine einzige Klasse von Molekülen hat also alles andere, von Aspirin bis Antibiotika, in Bezug auf den Umsatz auf die Plätze verwiesen.

Wie war das möglich?

Zunächst mal, weil Antikörpermedikamente enorm teuer sind. Natürlich wird sehr viel häufiger zum Beispiel Insulin eingesetzt als Tumornekrosefaktor(TNF)-Antagonisten wie Adalimumab, aber eine Behandlung damit ist auch um Größenordnungen billiger. Das alleine jedoch kann einen solchen Erfolg nicht erklären.

Ein wichtiger Faktor ist sicher die natürliche Herkunft der rekombinant hergestellten Immunglobuline: Die erfolgreichsten therapeutischen Antikörper sind Proteine mit hoher oder sogar vollständiger Homologie zu menschlichen Immunglobulinen – also im Gegensatz zum typischen, chemisch synthetisierten Wirkstoff etwas, das unserem Körper nicht fremd ist. Nebenwirkungen werden deshalb meist nur durch die spezifischen Bindungseigenschaften des jeweilig verwendeten Antikörpers ausgelöst. Toxizität aufgrund der Grundstruktur, wie sie bei jedem neuen chemisch synthetisierten Wirkstoffkandidaten unvorhersagbar auftreten kann, ist deshalb weniger zu erwarten.

Letztendlich entscheidend für ihren Erfolg ist aber vor allem der grundlegende molekulare Aufbau von Immunglobulinen. Therapeutische Antikörper wirken typischerweise entweder durch „Umprogrammieren“ der Immunantwort gegen Krebs, oder durch hochspezifische Neutralisierung eines einzelnen Proteins (wie zum Beispiel bei den TNF-Antagonisten). Beide Effekte werden erst möglich durch die spezielle Fähigkeit der Antikörper, mit fantastischer Spezifität ein bestimmtes körperfremdes Molekül inmitten hoher Konzentrationen zehntausender anderer körpereigener Proteine zu erkennen und hochaffin zu binden. Genau dafür wurde die Struktur der Antikörper in Jahrmillio­nen natürlicher Evolution optimiert. Zur Herstellung von Milliarden unterschiedlicher Antikörper reicht unserem Immunsystem dabei eine clevere Kombinatorik von rund 150 verschiedenen Gen-Stücken plus ein wenig Gen-Neusynthese. Den Rest übernimmt eine Mini-Evolution in unserem Körper: Selektion und Mutation führen letztlich zu Überleben und Wachstum der B-Zellen, welche die benötigten Antikörper sekretieren. Ein unglaublich eleganter und effektiver Vorgang!

Aber erst hundert Jahre nach von Behrings Entdeckung gelang spezifischen Antikörperpräparaten endlich der breite Durchbruch (Dübel & Reichert, 2014). Wachsendes Verständnis für die natürlichen Mechanismen der Antikörpererzeugung zusammen mit enormen Fortschritten in der Gentechnologie erlaubten es erstmals, menschliche Antikörper gezielt zu gewinnen. Der Schlüssel zum Erfolg dabei war, dass es gelang, maßgebliche Mechanismen der Antikörper-Immunantwort außerhalb des menschlichen Körpers zu imitieren. Die ersten klinisch erfolgreichen monoklonalen therapeutischen Antikörper nutzen dazu zunächst noch die Hybridom-Technologie von Köhler und Milstein (1975) zur Erzeugung von Maus-Antikörpern gewünschter Spezifität. Die Antikörper-DNA dieser Hybridome wurde dann kloniert, wobei mit gentechnologischen Mitteln möglichst große Teile der Maus-Sequenzen durch menschliche Aminosäureabfolgen ersetzt wurden. Solche „chimären“ oder „humanisierten“ Antikörper enthalten immer noch Maus-Sequenzanteile, insbesondere im Bereich der direkten Kontaktstellen zum Antigen. Diese Mausanteile waren nun aber so gering, dass die Verträglichkeit entscheidend verbessert werden konnte und die erste große Welle erfolgreicher Medikamentzulassungen gelang (Dübel & Reichert, 2014).

Die nächste bahnbrechende Erfindung war das Antikörper-Phagendisplay. Damit gelang erstmals die Erzeugung komplett menschlicher Antikörper außerhalb des Körpers – sogar ohne jede Immunisierung. Die Methode wurde 1990 parallel von Frank Breitling und mir in Heidelberg, Carlos Barbas in San Diego und John McCafferty und David Chiswell in Cambridge auf Basis der Arbeiten von George P. Smith entwickelt. Dabei wird als erster Schritt das natürliche Gen-Repertoire menschlicher Antikörper in E. coli kloniert – also eine Gen­bibliothek („Library“) aller menschlicher Antikörpersequenzen hergestellt. Dieser erste Schritt ist technisch keinesfalls trivial: Die besten „universellen“, also für die Erzeugung von Antikörpern gegen beliebige Antigene geeigneten Libraries enthalten heute mehr als zehn Milliarden verschiedener Einzelklone (Kügler et al, 2015). Die notwendige Diversität liegt also viele Größenordnungen über der üblichen Größe von cDNA-Genbiblio­theken. Antikörper-Libraries sind damit mit weitem Abstand die komplexesten Genbibliotheken. Im zweiten Schritt muss aus dieser riesigen Vielfalt an Strukturen der eine, richtige Antikörper selektiert werden. Dies ermöglicht das Phagendisplay. Dazu wird jeder Antikörper der Library an die Oberfläche eines Bakteriophagen gekoppelt, welcher in seinem Inneren genau die DNA enthält, die diesen speziellen Antikörper kodiert. Wird nun ein solcher Antikörperphage durch Bindung an sein Antigen aus den Milliarden anderer Antikörper der Library angereichert, erhält man so auch gleich die entsprechende DNA, da der Antikörper ja in Form des Phagen seinen eigenen genetischen Bauplan huckepack trägt (Breitling et al, 1991).

Der erste mit Hilfe von Antikörper-Phagendisplay erzeugte therapeutische Antikörper wurde 2002 zugelassen und ist seit 2012 das umsatzstärkste Medikament weltweit: das bereits erwähnte Arthritis-Präparat Humira (Ecker et al., 2015). Wenige Jahre nach der Erfindung des Phagendisplays wurde noch ein zweiter Weg zur Erzeugung menschlicher Antikörper gefunden: transgene Mäuse, deren eigene Antikörpergene durch das menschliche IgG-Genrepertoire ersetzt worden waren. Nach Immunisierung konnten sie deshalb Antikörper mit menschlicher Ursprungsequenz bilden. 2007 wurde der erste Antikörper aus s­olch einer Maus als Medikament zugelassen (Panitumumab, Handelsname Vectibix). Transgene Tiere mit menschlichen IgG-Genen sind heute neben dem Phagendisplay die zweite maßgebliche Quelle für neue humane therapeutische Antikörper (Lonberg, 2005).

Leider war die Nutzung von Antikörper-Phagendisplay und der Human-IgG-Mäuse für Diagnostik und Forschung aufgrund eines Dschungels aus Patenten lange behindert. Deshalb werden rekombinante Antikörper erst jetzt nach und nach auch für „nicht-hochpreisige“ Anwendungen verfügbar. Erste Antikörper aus unseren und anderen Phagendisplay-Libraries sind mittlerweile als Forschungsreagenzien per Katalog bestellbar. Dazu haben auch zahlreiche Forschungsprojekte beigetragen, welche sich mit der Optimierung der In-vitro-Selektion rekombinanter Antikörper für den Hochdurchsatz beschäftigten, zum Beispiel durch Miniaturisierung und Automatisierung. Die Vision von internationalen Forschungsverbünden wie etwa Affinomics, Antikörper gegen das gesamte menschliche Proteom herzustellen, wäre deshalb technisch bereits heute umsetzbar und somit nur noch eine Frage der Finanzierung. Nicht zu vergessen sei dabei auch, dass der enorme Hunger der Forscher auf die hochspezifischen Nachweisreagenzien mithilfe des Antikörper-Phagendisplays erstmals komplett versuchstierfrei befriedigt werden kann. Auch die besonderen Vorteile der In-vitro-Selektion, welche eine gezielte Steuerung biochemischer Eigenschaften wie Kreuzreaktivität, Stabilität oder Affinität während der Erzeugung ermöglicht (Bradbury et al. 2011) dürften dazu führen, dass die Verwendung rekombinanter Antikörper in Forschung und Diagnostik in naher Zukunft einen starken Aufschwung nimmt.

Die Karriere der rekombinanten Antikörper wird aber auch damit noch nicht ihren Höhepunkt in den Biowissenschaften und der Medizin erreicht haben. Kürzlich wurde mit Blinatumomab (Handelsname Blincyto) der erste rekombinante Antikörperwirkstoff zugelassen, der mit natürlichem Immunglobulin nur noch die Grundstruktur der Antigenbindedomänen gemein hat: Zwei Single-chain-Fv-Fragmente sind zu einem bispezifischen Antikörper verknüpft. Solche neuartigen Molekülkonstruktionen, welche keine direkten Vorbilder mehr in der Natur haben, läuten die Ära einer neuen Generation am Reißbrett konstruierter Wirkstoffe ein, die in ihren Fähigkeiten über natürliche Immunglobuline weit hinausgehen. Auch Fusionen von Antikörperteilen mit gänzlich anderen Proteinen, wie Enzymen oder Cytokinen, werden breit untersucht, und versprechen völlig neue therapeutische Ansätze „beyond IgG“.

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Aber auch in der Forschung ermöglicht die rekombinante Technologie ganz neue Anwendungen für Immunglobuline. Ein aktuelles Beispiel sind „Intrabodies“: Hier werden Antikörper in einer Zelle so produziert, dass sie ihr Antigen bereits in deren Inneren binden und dadurch inhibieren oder entfernen. Mithilfe eines solchen Intrabodies – hergestellt durch Phagendisplay – gelang kürzlich Sven Burgdorf und seinem Team von der Uni Bonn der Nachweis, dass Sec61 maßgeblich an der Kreuzpräsentation von Antigen beteiligt ist (Zehner et al., 2015). Diese Versuche wären auf DNA-/RNA-Ebene selbst mit den neuesten CRISPR/Cas-Systemen nicht machbar gewesen – erst das Knock-down mit Antikörpern direkt auf Proteinebene ermöglichte sie.

Kürzlich wurde auch erstmals mithilfe von Intrabodies eine biochemische Funktion im lebenden Organismus direkt auf Proteinebene ausgeschaltet (Marschall et al., 2014).

Solche Protein-knock-down-Mäuse könnten in Zukunft die Genfunktionsanalysen durch ganz neue Analysemöglichkeiten bereichern. Neben Knock-outs auf DNA- und RNA-Ebene wird dadurch auch die Ebene der Proteine einer entsprechenden Analyse zugänglich, zum Beispiel für die Untersuchung von In-vivo-Effekten posttranslationaler Modifikationen. Da bereits heute mithilfe des Phagendisplays rekombinante Antikörper in vitro im Hochdurchsatz und gegen beliebige Antigene in wenigen Wochen erzeugt werden können, dürfte diese Technologie in Zukunft eine wesentlich breitere Anwendung finden.

Nach einer sehr langen Durststrecke brachten rekombinante Technologien endlich den Durchbruch für therapeutische Antikörper, und sie bescherten der Forschung ganz neue Methoden zur Beantwortung bis dahin nicht lösbarer Fragen. Aber das ist noch lange nicht das Ende. Meiner Überzeugung nach werden von der rekombinanten Antikörpertechnologie noch sehr viele neue Impulse für Forschung, Diagnostik und Therapie ausgehen.

Stefan Dübel, Professor für Biotechnologie an der TU Braunschweig, ist einer der Pioniere der modernen rekombinanten Antikörpertechnologie, Mitgründer der Yumab GmbH und Herausgeber des „Handbook of Therapeutic Antibodies“.



Literatur

  • Behring, E. & Kitasato, S. (1890). Über das Zustandekommen der Diphtherie-Immunität und der Tetanus-Immunität bei Thieren. Deutsche medizinsche Wochenschrift 16:1113.
  • Bradbury, A., Sidhu, S., Dübel, S. & McCafferty, J. (2011) Beyond natural antibodies: the power of in vitro display technologies. Nature Biotechnol. 29, 245.
  • Breitling, F., Dübel, S., Seehaus, T., Klewinghaus, I., and Little, M. (1991). A surface expression vector for antibody screening. Gene 104, 147.
  • Dübel, S. & Reichert, J.M. (eds.) (2014) Handbook of Therapeutic Antibodies, 2. Aufl. 4 Bände, Wiley-VCH, Weinheim, ISBN 978-3-527-32937-3.
  • Köhler, G. and Milstein, C. (1975) Continuous cultures of fused cells secreting antibody of predefined specificity. Nature 256: 495.
  • Kügler, J., Wilke. S., Doris, M., Tomszak, F., Frenzel, A., Schirrmann, T., Dübel, S., Garritsen, H., Hock. B., Toleikis, L., Schütte, M. and Hust. M. (2015) Generation and analysis of the improved human HAL9/10 antibody phage display libraries. BMC Biotechnol. 15:10.
  • Lonberg N. (2005) Human antibodies from transgenic animals. Nat Biotechnol. 23(9):1117.
  • Marschall, A.L.J., Single, F.N., Schlarmann, K., Bosio, A., Strebe, N., van den Heuvel, J., Frenzel, A. & Dübel, S. (2014) Functional knock down of VCAM1 in mice mediated by ER intrabodies. mAbs 6, 1394.
  • Zehner, M., Marschall, A.L.J., Erik Bos, E., Schloetel, J.-G., Kreer, C., Fehrenschild, D., Limmer, A., Ossendorp, F., Lang, T., Koster, A.J., Dübel, S., Burgdorf, S. (2015) Endosomal Sec61 mediates antigen translocation in the cytosol for cross-presentation. Immunity 42:850.



Letzte Änderungen: 12.07.2016