Editorial

"Mehr Licht"

Zu Fragen des flüssigkeitsarmen Pelzwaschens

Von Cornelius Frömmel, Göttingen


(12.07.2016) Warum scheut man sich, wissenschaftliches Fehlverhalten mit aller gebotenen Härte des Gesetzes zu bestrafen?

Essays
Illustration: Fotolia / freshideas

Beim Thema ‚Gute wissenschaftliche Praxis und deren Sicherung’ wundere ich mich immer wieder über die Mutlosigkeit hier in Deutschland. Selbst den Wissenschaftsrat (WR), der 2015 ein Positionspapier „Empfehlungen zu wissenschaftlicher Integrität“ publizierte, kann ich von diesem Vorwurf nicht freisprechen (Laborjournal hat diese Empfehlungen einen „Papiertiger“ genannt!). Einerseits werden wichtige Probleme in dem Papier nicht behandelt (kursiv wörtliche Zitate): „[...] nicht in diesem begrenzten Rahmen behandelt werden kann das Thema Korruption und Beeinflussung von Forschung durch (kommerzielle) Auftraggeber [...] “, „das Themenfeld Diskriminierung“ und „[...] Sanktion von Betrugsfällen“. Und zum anderen werden zwei Verantwortungsträger – Souverän und Parlamente als Gesetzgeber wie auch die Studierenden – nicht berücksichtigt. Das Ombudswesen wurde schließlich als Lösung protegiert, ohne die Gefahren einer solchen Herangehensweise näher zu betrachten. Selbstverwaltung an der falschen Stelle wandelt sich schnell zu Selbstjustiz und verletzt damit den Grundsatz ‚Nemo iudex in sua causa‘.

Das Thema ‚Integrität der Wissenschaft‘ ist ein großes. Nicht etwa, weil es so viele Täterinnen und Täter gäbe (wie im normalen Leben ist die Zahl der unredlichen Wissenschaftlerinnen übrigens deutlich kleiner als die der unredlichen Kollegen). Kriminelle Wissenschaftler sind selten. Die Größe des Problems ergibt sich aus der Vielzahl der Untatbestände, aus Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Vorsatz, bedingtem Vorsatz, Vorsatz durch Unterlassung, Fahrlässigkeit und ‚ehrbarem Irrtum‘, sowie aus der Beschwerlichkeit der Aufklärung und der Ahndung der Untaten. Und vielleicht der wichtigste Faktor für die Größe des Themas: Wissenschaftliches Fehlverhalten erodiert den Kern der Wissenschaft!

Akademisches Fehlverhalten hat in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit erhalten, obwohl man es seit Anbeginn der Wissenschaften kennt. Auch für die akademische Welt gilt die 1895 von D. É. Durkheim gemachte Feststellung, dass Kriminalität ein normales Phänomen und unausrottbar ist („[...] Es gibt keine Gesellschaft, in der keine Kriminalität existiert [...], die (als Erscheinung) unwiderleglich alle Symptome der Normalität aufweist [...] “). Damit ist es auch für die Wissenschaft naheliegend, sich genauso wie die Gesellschaft gegen Kriminalität zur Wehr zu setzen. Warum sollte die Wissenschaft denn nicht Anleihen am staatlichen Umgang mit Kriminalität, verteilt auf Legislative, Exekutive und Judikative, aufnehmen?

In der Wissenschafts-Community werden viele, sehr verschiedene akademische Delikte diskutiert (siehe Tab. 1). Die meisten Arbeiten zum Thema sehen jedoch das Erfinden (Fabrizieren), das (Ver)Fälschen von Daten und Ergebnissen, und das Plagiieren (einschließlich des Autoplagiats – ein Straftatbestand, den es im Urheberrecht übrigens so nicht gibt) als die drei schwerwiegendsten angesehen (= FFP: Fabrication, Falsifying, Plagiarism).

Es fällt leicht, das Erfinden von Daten als kriminell zu charakterisieren, vorausgesetzt man kann es nachweisen. Bei ‚geschickten‘ Datenerfindern, die zum Beispel die Häufigkeiten von Ziffern in digitalen Angaben (Benford-Verteilung) berücksichtigen oder ‚gut‘ positionierte Ausreißer miterfinden und dabei immer Zeugen vermeiden, ist das schwierig. Der Nachweis setzt den Zugang zu den Originaldaten voraus. Gleiches gilt für verfälschte Daten. Auch ist die Grenze zwischen den massiven Formen des Fehlverhaltens (FFP) und den in Tabelle 1 aufgeführten ‚Fragwürdigen Praktiken’ nicht scharf. Wenn die Datensammlung früher beendet wird als geplant, weil das erwartete Resultat statistisch bestätigt scheint, muss man sich fragen, ob dies dem Verfälschen (FFP) oder eher den Fragwürdigen Praktiken wie unvollständigem Publizieren zugeordnet werden muss.

Als zwei weitere Beispiele sollen hier das Abschreiben (Plagiieren) sowie die Problematik der ‚potentiellen Interessenkonflikte‘ näher betrachtet werden. Abschreiben (Plagiat Typ I) oder Ideendiebstahl (Plagiat Typ II) sind nicht selten, wobei der studentische Bereich häufiger betroffen ist. Die Analyse gestaltet sich von ‚einfach’ (aus bekannten Texten kopierte Teile können Rechner leicht finden) bis ‚schwierig’ und ‚fehlerbehaftet’ (übersetzte oder umformulierte Texte). Dem Rechner entgeht (noch) die inhaltliche Bedeutung. Schwierigkeiten ergeben sich auch bei der Bewertung vorgefundener Ähnlichkeiten zwischen einem ‚Quelltext‘ und der ‚Kopie‘.

Beispielsweise muss kein Ideenklau vorliegen, wenn zwei Gruppen das gleiche oder sehr ähnliche Projekte starten (und veröffentlichen) – manchmal liegen Ideen eben ‚auf der Straße‘. Ein berühmtes Beispiel ist die Entwicklung der Infinitesimalrechnung durch Leibnitz und Newton vor mehr als dreihundert Jahren. Andererseits kann es strittig sein, was als allbekannt gelten kann und nicht mit einem Zitat belegt werden muss. Zweifelsfrei kriminell jedoch ist das Stehlen von Ideen (Typ II Plagiat) – etwa aus Forschungsanträgen, die man für einen Förderer begutachtet.

Auch unredlich ist der Plagiat Typ III, bei dem Autoren Aussagen untergeschoben werden. Ein nettes Beispiel hierfür ist die Frage Violas in Shakespeare‘s „Twelfth Night; or, What You Will”, 3. Aufzug, 2. Szene: „Doch wozu ist des Weisen Torheit nütz?“ (Schlegel’sche Übersetzung). Das Original lautet indes: „But wise men, folly-fall‘n, quite taint their wit” – und enthält nichts über einen potentiellen Nutzen der Torheit. Wie viele Zitate in wissenschaftlichen Arbeiten folgen diesem Schema?

Die Übernahme eines Artikels in das Literaturverzeichnis, ohne ihn je gelesen zu haben (beispielsweise aus einer andern Arbeit), findet sich wahrscheinlich bei mehr als einem Drittel der zitierten Arbeiten einer Publikation. Wiederum 30 Prozent der Zitate stützen nicht die Aussage, für die sie zitiert werden.

Wissenschaftler rühmen sich ihrer Objektivität und Unbeeinflussbarkeit. Bis vor einigen Jahren wurden die Aussagen „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ oder „Geld verdirbt den Charakter“ als irrelevant für die Wissenschaftlergemeinde angenommen. So war es Usus, Auftrag- und Geldgeber einer Studie nicht zu nennen. Ein paar Skandale und leidvolle Erfahrungen später (leidvoll ist hier in Bezug auf so manche klinische ‚Gefälligkeitsstudie’ durchaus wörtlich zu nehmen) ist heute das Nennen der Auftrag- und Geldgeber bei den meisten Zeitschriften (aber leider nicht bei allen) Pflicht – Stichwort pCOI (potential Conflict Of Interest, potentieller Interessenskonflikt). Aber kontrolliert das jemand? Werden pCOIs heute in einer öffentlich zugänglichen Datenbank hinterlegt?

Zur Häufigkeit ‚akademischer Delikte‘ findet man unterschiedliche Angaben. Pro Jahr werden zur Zeit etwa 2.000 Publikationen zurückgezogen. Bei einer Zahl von etwa zwei Millionen Veröffentlichungen pro Jahr ist das mit 0,5-1 Promille ein sehr seltenes Ereignis. Befragungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vermitteln jedoch ein anderes Bild. Die Häufigkeit der drei schweren Vergehen (FFP) für ein Wissenschaftlerleben wurde mit etwa 10 Prozent ermittelt – also einer von Zehn Wissenschaftlern tut es wenigstens ein Mal. Die leichteren Vergehen kommen laut Selbstauskunft je nach Untersuchungstyp auf 15 bis zu 90 Prozent. Das heißt im schlimmsten Fall: Nur einer von Zehn tut es nie! Vergleichbar häufig: 70 bis 90 Prozent der Studierenden schreiben mindestens einmal ohne Zitierung ab.

Fehlverhalten gibt es, seit es Menschen gibt – und verschwand und verschwindet offenbar auch nicht mit der Entwicklung der Wissenschaften seit der Aufklärung. Im Betrugslexikon des Georg Paul Hönn aus dem Jahre 1724 findet sich betrügerisches Fehlverhalten der Professoren (21 Arten) und Studenten (36 Arten) in reichlichem Maße – und da es bis heute beobachtet wird, kann akademisches Fehlverhalten mit Durkheim als normal angesehen werden. Für die normalen kriminellen Taten des Alltages werden mit gut strukturierten, gesetzlich definierten Prozeduren Antworten zu Schuld, Verantwortung und Haftung, Strafe, Sühne und Wiedergutmachung gesucht. Warum nicht in der Wissenschaft?

Tab. 1: Formen akademischen Fehlverhaltens


Schwere Formen (‚FFP’)

  • Daten fabrizieren
  • Daten fälschen, verfälschen, trimmen
  • Plagiat, Autoplagiat


Fragwürdige Praktiken QRP (questionable research practice)

  • Doppelpublikation
  • Salamipublikation
  • Ghostwriting
  • Daten-/Ideendiebstahl
  • Publikationsbias
  • In der Publikation werden nicht alle relevanten Daten, Maße usw. mitgeteilt
  • In Publikationen werden nicht alle (Rand)Bedingungen mitgeteilt
  • Anwendung falscher statistischer Methoden
  • Rechenfehler in der Statistik
  • Es werden mehr Daten gesammelt als geplant – bis Signifikanz auftritt
  • Die Datensammlung wird früher beendet als geplant, weil das erwartete Resultat statistisch bestätigt scheint
  • In Publikationen einen p-Wert ‚runden’ (zum Beispiel p = 0,05 statt p = 0,054)
  • Ausschluss von Daten, nachdem deren Einfluss auf das Ergebnis deutlich wurde
  • Datensätze so auswählen, bis die Ergebnisse positiv erscheinen
  • In Publikationen so berichten, dass (unerwartete) Befunde von Anfang an antizipiert wurden – beziehungsweise nur Thesen dargestellt werden, die erst nach Durchführung der Untersuchung abgeleitet wurden (HARK = Hypothesis After the Results are Known)
  • Verschweigen des Einflusses demographischer Variablen (etwa Gender, Alter )
  • Unberechtigtes beziehungsweise unkritisches Verwenden von Daten
  • Nichthinterlegen von Daten, Verschwinden von ‚Laborbüchern‘


Schlamperei

  • Fehlerhafte Zitate (Angaben inkorrekt, Inhalte in der angegebenen Publikation nicht belegt)
  • Schmeichelhafte Zitierungen
  • Fehlerhaftes Peer-Review
  • Bruch der Vertraulichkeit
  • Verleumderisches Whistleblowing
  • Ehrenautorschaften, Unterdrückung von Autorschaften
  • Unethisches Verhalten
  • Unethische Versuche und Studien
  • Verletzung des Ethikvotums, Untersuchungen ohne Ethikvotum
  • Verletzung des Tierschutzvotums
  • Fehlverhalten in der Zusammenarbeit
  • Mobbing, Missgunst, Diskriminierung
  • Schlechte oder fehlende Betreuung
  • Ausbeutung anderer
  • Versteckter oder offener Sexismus
  • Nepotismus
  • Sabotage
  • Verleumdung
  • Beleidigung
  • Fehlerhaftes Peer Review



Bei allen akademischen Untaten begegnet uns ein Spektrum von ‚eindeutig kriminell‘ bis hin zu nicht-strafwürdigem, ‚ungezogenem Benehmen‘, von Dummheit über Ignoranz bis ‚Hinterher wissen wir es besser‘. Nachweise von Fehlverhalten bedürfen Sachkenntnis und sind schwierig. Vieles kann man nur eruieren, wenn der Zugang zu den Originaldaten gegeben ist und die Beteiligten befragt werden können. Wie bei der ‚Alltagskriminalität‘ ist ohne Berücksichtigung der Tatumstände eine faire Beurteilung unmöglich.

Entsprechende Vergehen rufen auch nach einer (rechtstaatlichen) angemessenen Ahndung. Ein Zeichen für korrektes Handeln wäre vergleichbares Behandeln vergleichbarer Taten. Gerhard Dannemann und Debora Weber-Wulff haben sich in ihrem 2015er-Artikel „Viel Licht und noch mehr Schatten – Wie Universitäten auf Plagiatsdokumentationen reagieren“ intensiv mit der Plagiats-Problematik wissenschaftlicher Graduierungsarbeiten in Deutschland befasst – und halten darin fest:

Die Maßstäbe sind uneinheitlich. Der Doktortitel kann etwa erhalten bleiben, obwohl sich auf 75 Prozent der Seiten Plagiate fanden – und er kann entzogen werden, wenn sich solche auf 39 Prozent der Seiten fanden.

Tab. 2: Übersicht über rechtsstaatlich zu regelnde Aspekte


  • Reichweite Zivilrecht, Reichweite Strafrecht
  • Definition der Untaten (Betrug, Korruption,… fehlende Aufsichtspflicht,…)
  • ‚Unabhängige Gerichtsbarkeit‘
  • Revisionsverfahren
  • Zuständigkeiten
  • Untersuchungsrechte (Wer darf was einsehen?)
  • Rechtssicherer und fairer Umgang mit Whistleblowern
  • Zeugnisverweigerungsrecht
  • Konsequenzen von Fehlverhalten (Strafen, arbeitsrechtliche Konsequenzen, Regelungen zur Bekanntgabe von Verfehlungen in Science Community und Öffentlichkeit, Veröffentlichung der Strafen, Geldbußen, Titelaberkennung,...
  • Haftung (Haushaltsgelder, Drittmittelgelder, Schmerzensgeld bei fehlerhaften Studien im Rahmen der Patientensicherheit?)
  • Regelungen zur Löschung von Einträgen (etwa in einem ‚akademischen Führungszeugnis‘?)
  • Regelungen zu Korrektur- und Rückziehungspflichten bei fehlerhaften Publikationen, Graduierungsarbeiten
  • Tatbestand ‚Unwürdigkeit’? (Erweiterung der Strafen auf eigentlich vom Fehlverhalten nicht betroffene Bereiche, beispielsweise Entzug des Doktortitels bei späterem schweren Fehlverhalten)
  • Bewährungsstrafen, Bewährungsregeln
  • Verjährungsregelungen
  • Regelungen zur Kostenübernahme der Verfahrensaufwendungen (bei Freispruch beziehungsweise nachgewiesenem Vergehen)
  • Archivierung, Zugang und Nutzung von Originaldaten (Verantwortlichkeit, Umfang)


Man geht nicht nach ‚sine Ira et Studio’ vor. Bislang werden etwa Politikerinnen und Politiker schneller und strenger verhandelt als aktive Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Es gibt nur wenig Transparenz. Veröffentlichungen von Untersuchungsergebnissen aus der Science Community findet man nur selten. Nimmt man diese Hinweise ernst, dann spricht einiges dafür, dass das Übel mit dem bisherigen Herangehen nicht bei der Wurzel gepackt werden kann.

Wie könnte man akademisch Kriminellen also besser in den Arm fallen? Denkbar ist, weiterhin Appelle zur Prävention verfassen. Wie etwa der WR 2015: Wir müssen „[…] den Fokus über die Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis hinaus erweitern hin zu einer umfassenden Kultur der Redlichkeit und Qualität […].“ Wir brauchen „[…]Vermittlung guter wissenschaftlicher Praxis vom Beginn des Studiums an, gute Beratung und Aufklärungsstrukturen in Konfliktfällen sowie eine stärkere Ausrichtung auf Qualität als auf Quantität in der gesamten Forschungs- und Publikationspraxis.“ Weiterhin könnte eine „[…] institutionenübergreifende Einrichtung“ gebildet werden. „Durch den Austausch und die Vernetzung der Ombudspersonen sollen sich gemeinsame Bewertungsmaßstäbe bilden und Verfahren standardisiert werden.“ Alles gut, aber harmlos!

Man kann nur darüber spekulieren, warum der WR keinen anderen Weg vorschlug, der dem Artikel 103 GG besser gerecht wird („2. Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“). Warum befürwortet man keine ordentlichen Gesetze und Verfahren? „Sind wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht schon gequält genug? Die Polizei, Staatsanwälte, Anwälte und Richter nun als endgültige Zerstörer der vertrauensvollen Arbeit und grundgesetzlich garantierter Freiheiten anzufordern, ist Häresie.“ So werden manche rufen.

Vor etwa vierzig Jahren fürchtete sich die Medizin in gleicher Weise vor der Jurisprudenz. Und jetzt hat man sich sogar von in Sprache gegossenen Lügen verabschiedet. So wurde etwa der Verantwortung negierende Begriff ‚Kunstfehler‘ durch den Verantwortung heischenden ‚Behandlungsfehler‘ ersetzt. Medizinrecht ist heute ein ausdifferenziertes Rechtsgebiet, das fast tausendseitige Buch dazu ist seit 1983 in sieben Auflagen erschienen – und die Medizin ist nicht zusammengebrochen. Warum sollte der Wissenschaft beim Einzug weiterer rechtsstaatlicher Prinzipien der Untergang drohen?

Ist etwa die grundgesetzlich garantierte Wissenschaftsfreiheit in Gefahr? Wohl kaum. Auch in der Krankenversorgung sind eine Reihe von Artikeln des Grundgesetzes zu berücksichtigen – es gibt eine Vielzahl relevanter gesetzlicher Regelungen und ihre Einhaltung kann, wenn es notwendig erscheint, gerichtlich durchgesetzt werden. Ebenso wenig wie Präven­tion, Impfung, gesunde Ernährung, liebevoller Umgang miteinander und Stressvermeidung jegliche Erkrankung verhindern, so rotten das Vermeiden verbre­chensfördernder Bedingungen oder Präventionsmaßnahmen kein kriminelles akademisches Verhalten aus. Zum Umgang mit Kriminalität gehört neben der Vorbeugung, die nie (!) alles verhindern kann, gleichermaßen die Aufdeckung der Untaten wie auch ihre angemessene Ahndung. Ohne Strafen entspricht der Umgang mit wissenschaftlichen Fehlverhalten dem Spruch „Wasch’ mir den Pelz, aber mach’ mich nicht nass!“

Gerne wird in diesem Zusammenhang die Gefahr gemäß dem Spruch „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser!“ gesehen (eine Lenin zugeschriebene Interpretation des russischen Sprichworts ,Доверяй, но проверяй!‘. Kontrollwahn stünde also vor der Tür! Das zitierte Original macht aber keine Relation auf zwischen dem, was gut und was besser ist, sondern konstatiert, dass man zwar vertrauen sollte, sich aber nicht nehmen lassen sollte, die Angelegenheit(en) jeweils im Nachgang genauer anzuschauen. Nichts anderes macht Wissenschaft schon immer (wenn auch zur Zeit etwas weniger, Reproduktion von Ergebnissen ist gerade ein aktuelles Problem). Andererseits mussten und müssen Forscherinnen und Forscher der guten und akzeptierten Ordnung halber schon immer gut protokollieren – folglich entstünde auch kein höherer Dokumentationsaufwand.

Das genaue Hinsehen sollte ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten umfassen – vom kollegialen Gespräch über Probleme, Befassung durch Ombudsgremien bis in zur rechtlichen Prüfung durch Gerichte. Das Gegenteil wäre die Anwendung eines Zunftrechtes in Form der ‚Selbstreinigungskraft der Wissenschaft‘. Dabei wird der Öffentlichkeit weisgemacht, dass all die unschönen Dinge der schlechten wissenschaftlichen Praxis mittels wissenschaftsimmanenter Kräfte erkannt, umfänglich ermittelt und angemessen geahndet werden können. (WR: „Es ist daher eine beständige Aufgabe der Wissenschaft, sich im Sinne von Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle um Rahmenbedingungen und Regeln zu bemühen, die wissenschaftliche Redlichkeit unterstützen.“). Es schaut so aus, als wolle sich die Science Community gegen Eindringlinge schützen. Wir Wissenschaftler sind Legislative, Exekutive und Judikative in einem! Auf diese Weise entsprechen die Vorschläge des WR in gewissem Sinne tatsächlich einer akademischen Adaptation des ‚flüssigkeitsfreien Pelzwaschens.‘

So umfangreich die akademischen Untaten sind, so breit sind die Anforderungen an die Entwicklung eines ‚Wissenschaftsrechts‘ (Tab. 2) – wobei die juristischen Ansprüche auf Grund der Nähe zu grundgesetzlichen Vorgaben hoch sind.

Dabei verbergen sich hinter den einzelnen Stichworten oft ganze Suiten von Problemen. So wäre zum Beispiel bei der Verjährung zu klären, ob überhaupt und welche Fristen sinnvoll sind. Wie soll mit dem Corpus delicti des Fehlverhaltens (etwa der Promotionsschrift) umgegangen werden? Eine Verjährung würde die Tat nicht ungeschehen machen. Es bleibt aber zu klären, wie das Fehlverhalten berichtet (Kennzeichnung der jeweiligen Fehler in Text, Bild, Zitat usw.) und der Text berichtigt werden müssen. Ebenso komplex sind Haftungsfragen und die Ahndung der Untaten bis hin zu ihrer zivil- beziehungsweise strafrechtlichen Würdigung. Es kann nicht sein, dass es mehr oder weniger nur kleine Strafmaßvariationen (‚Akademische Todesstrafe Titelaberkennung‘ oder erhobener Zeigefinger) bei der Vielzahl unterschiedlicher Taten gibt. Wissenschaftliches Fehlverhalten auszurotten ist unmöglich – ihm vorzubeugen, es zu erkennen und es zu ahnden sehr wohl! Wie beginnt die Pressemitteilung des Wissenschaftsrates zum Thema? „Wir brauchen mehr als Regeln.“ Ja, wir brauchen grundgesetzfeste rechtliche Regelungen, auch in Gesetzesform samt unabhängiger Gerichte. Das heißt nicht, dass alles detailliert in Gesetze gegossen werden muss – es genügt oft, dass die Universitäten die Regelungskompetenz erhalten und wahrnehmen (müssen).

Cornelius Frömmel war bis 2012 Dekan des Fachbereichs Humanmedizin sowie Vorstandssprecher der Universitätsmedizin Göttingen. Im April 2012 übernahm er dort auf eigenen Wunsch die Gründungprofessur Orthobionik.


Letzte Änderungen: 12.07.2016