Editorial

Jetzt mal ehrlich

Von einem, der auszog, sich über Masern zu informieren

Von Ulrich Berger, Wien


Essays
Illustration: Tim Teebken

(07.07.2015) Skeptiker kämpfen mit wissenschaftlich fundierten Argumenten gegen die zunehmende Verbreitung von pseudowissenschaftlichem und esoterischem Aberglauben in der Gesellschaft. Zumindest im Fall von Masern ist das aber manchmal gar nicht einfach.

Masern. Man kann wohl getrost sagen, dass dieses Wort die deutschsprachigen Medien in den letzten Monaten geradezu überschwemmt hat. Beinahe 5.000 einschlägige Artikel verzeichnet die Pressedatenbank meines Vertrauens zum Stichwort Masern seit Beginn des Ausbruchs im Oktober letzten Jahres. Wer an Masern denkt, assoziiert damit meistens das Bild des traurig blickenden Kleinkinds, dessen Haut mit den charakteristischen roten Punkten übersät ist, wie es hundertfach zur Illustration von Medienberichten verwendet wurde. Bei mir ist das anders. Ich verknüpfe dieses Wort mit einem anderen Wort, einem Namen: Wakefield. Erst danach kommt das Bild des traurigen Kleinkinds.

Berufskrankheit, könnte man meinen. Allerdings habe ich aber beruflich gar nichts mit Masern zu tun; ich bin nämlich weder Mediziner noch Biologe, sondern nur Wirtschaftswissenschaftler – genau genommen Spieltheoretiker. Daneben bin ich jedoch auch ein sogenannter Skeptiker, und das ist wohl auch der Grund, warum ich bereits die Ehre hatte, im Laborjournal zu veröffentlichen.

Skeptiker kämpfen mit wissenschaftlich fundierten Argumenten gegen die zunehmende Verbreitung von pseudowissenschaftlichem und esoterischem Aberglauben in der Gesellschaft. Als Vorstand der „Gesellschaft für kritisches Denken“, des österreichischen Ablegers der „GWUP – Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften“ bin ich zwangsläufig beinahe täglich mit medizinischen Themen konfrontiert. Allerdings hauptsächlich mit dessen Rändern und Auswüchsen in Form von AIDS-Leugnern, selbsternannten Krebswunderheilern, Homöopathen, Kinesiologen oder Geistheilern – und eben auch mit allen Schattierungen von Impfgegnern, Impfskeptikern und Impfkritikern. Deshalb also: Masern – Wakefield.

Andrew Wakefield, das ist der Name jenes britischen Arztes, der in den letzten eineinhalb Jahrzehnten gewissermaßen zum personifizierten Stellvertreter der „Impfkritiker“ wurde. 1998 hatte er in The Lancet die mittlerweile berüchtigte Studie veröffentlicht, welche einen Zusammenhang zwischen der Impfung gegen Mumps, Masern und Röteln (MMR-Impfung) und Autismus herstellte. „Herstellte“ ist dabei der richtige Ausdruck, denn wie sich im Lauf der nächsten Jahre offenbarte, hatte eine Anwaltskanzlei, die Eltern von angeblich betroffenen Kindern vertrat, die Veröffentlichung der für ihre Interessen enorm wichtigen Arbeit mit ein paar Millionen Pfund gefördert. Wakefield, der seinen nicht gerade marginalen Interessenskonflikt verheimlicht hatte, verlor in der Folge dieses Skandals nicht nur seine Studie, die 2010 zurückgezogen wurde, sondern auch seine Zulassung als Arzt, nachdem bekannt geworden war, dass er ohne den Umweg über eine Ethikkommission gefährliche Experimente an Kindern durchgeführt hatte. Später stellten sich auch noch Teile seiner Arbeit als offenbar gefälscht heraus. Doch bis dahin hatten bereits dutzende weiterer Studien weltweit nach einem Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus gefahndet, freilich ohne irgendwelche belastbaren Indizien dafür zu finden.

Der Schaden jedoch war längst angerichtet. Durch die teils reißerische und einseitige mediale Berichterstattung waren Teile der britischen Bevölkerung so verunsichert worden, dass die Masern-Impfrate um acht Prozentpunkte einbrach, sich jahrelang nicht mehr erholte und somit weit unterhalb des für die Herdenimmunität notwendigen Wertes dahindümpelte.

Als großer Fan des britischen Wissenschaftsautors Ben Goldacre hatte ich den Skandal in dessen Berichten jahrelang mitverfolgt. So lange offenbar, bis sich das Wort Masern in meinem Gehirn fest mit dem Namen Wakefield verdrahtete. Dabei ist das Phänomen des MMR-autism scare doch gewissermaßen ein lokales. Heimische Impfkritiker fürchten bei der MMR-Impfung nämlich weniger Autismus im Speziellen, sondern den berüchtigten „Impfschaden“ im Allgemeinen – also schwerste Folgeerscheinungen von Lähmungen über geistige Behinderung bis zum Tod.

Als gelernter Skeptiker weiß man solchen Ängsten selbstbewusst mit wissenschaftlichen Daten, Zahlen und Fakten gegenüberzutreten. „Ja“, sagte ich also im Zuge einer einschlägigen Diskussion zu meiner Bekannten, die zwar eine Anhängerin der Anthroposophie, ansonsten aber ganz vernünftig war, „Impfschäden gibt es. Aber sie sind extrem selten. Viel seltener als schwere Folgeschäden durch die Masern. Da liegt ein Faktor 1.000 dazwischen!“

Gottseidank fragte sie nicht weiter nach. Denn noch während ich dies großspurig verkündete, wurde mir klar, dass das zwar nicht grob falsch, aber doch reichlich irrelevant war. Wenn ich vor der Entscheidung stehe, mein Kind impfen zu lassen oder nicht, dann sind die Alternativen nämlich nicht Impfung oder Masern, sondern Impfung oder Nicht-Impfung. Vergessen wir der Bequemlichkeit halber hier einmal das moralische Argument, das auf positive externe Effekte abzielt, insbesondere auf den Beitrag der Impfung zum Herdenschutz. Die Frage, die sich dem besorgten Impfskeptiker oder der besorgten Impfskeptikerin stellt, ist dann im Grunde ganz einfach: Um wieviel höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein Kind eine schwere Komplikation erleidet, wenn ich es nicht impfen lasse, als wenn ich es impfen lasse?

Nun muss ich zugeben: keine Ahnung! Ich kann mich nicht erinnern, Abschätzungen dieses doch wohl entscheidenden Faktors jemals in einer Impfdiskussion, auf einer Impfinformationsseite, in einem Medienbericht, im Webauftritt einer Gesundheitsbehörde oder sonstwo gelesen zu haben. Das ärgert mich ein wenig, denn das ist Wasser auf die Mühlen der radikalen Impfgegner, die ohnehin überall Verschwörungen wittern. Andererseits, unter ein paar vereinfachenden Annahmen sollte es für den interessierten Laien doch wenigstens möglich sein, sich die Informationen zu beschaffen, die er braucht, um solch eine Abschätzung selbst vornehmen zu können. Die Wahrscheinlichkeit einer schweren Komplikation durch Nicht-Impfen ist nämlich das Produkt der Wahrscheinlichkeit, ungeimpft an Masern zu erkranken, mit der bedingten Wahrscheinlichkeit einer Komplikation, falls man bereits an Masern erkrankt ist.

Um eine vernünftige, informierte Entscheidung zu treffen, brauche ich also Daten über die Risiken der Masernimpfung, über die Risiken von Masern und über das Risiko, überhaupt an Masern zu erkranken. Zum Glück gibt es im Internet einige vertrauenswürdige Seiten, wo man sich diese Informationen doch beschaffen können sollte. Der geübte Sucher beginnt bei Wikipedia bzw. bei den dort angegebenen Quellen, und geht dann die einschlägigen Kürzel RKI, PEI, WHO, CDC usw. durch. Und zumindest in den Qualitätsmedien sollten, gerade in Zeiten der allgegenwärtigen Masernimpfdiskussion, die entsprechenden Daten auch leicht verständlich zusammengefasst zu finden sein. Ich mache mich also auf die Suche.

Informationen zur Gefährlichkeit von Masern sind leicht zu finden. Auf Komplikationen wie Meningitis, Enzephalitis, SSPE, Lungenentzündungen etc. wird auf sämtlichen Behördenseiten und auch in den Medien immer wieder hingewiesen. Die Angaben zur Letalität in Europa schwanken je nach Quelle, Zeitraum und Berechnungsmethode zwischen etwa 1:10.000 und 1:1.000. Bei den Daten zum Risiko der Masernimpfung wird es schon schwieriger. Die wenigen Berichte, die darauf eingehen, liefern Schätzungen der Letalität von etwa 1:1.000.000 ab. Meist beruhen diese auf Statistiken zu Enzephalitiden, die durch die Impfung verursacht wurden. Daraus leitet sich auch der hin und wieder genannte Faktor 1.000 ab, der mir selbst im Gedächtnis geblieben war.

Die Suche nach Angaben zur Erkrankungswahrscheinlichkeit dagegen verlaufen im Nirwana. Wenn ich mein Kind nicht impfen lasse, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass es im Laufe seines Lebens an Masern erkrankt? Auch nach intensiver Suche: Fehlanzeige. Worauf man immer wieder stößt, sind Angaben zur Maserninzidenz in verschiedenen Ländern und verschiedenen Zeiträumen. Die helfen aber kaum weiter. Die Information, die man für eine gewissenhafte Entscheidung braucht, ist offenbar nicht aufzutreiben. Dabei sei angemerkt: Freilich ist es schwierig, die Lebenszeit-Erkrankungswahrscheinlichkeit (oder wie immer das heißt) eines heute ein Jahr alten ungeimpften Kindes abzuschätzen. Die hängt nämlich stark von der Durchimpfungsrate in der Bevölkerung ab, und zwar der zukünftigen, nicht nur der aktuellen. Aber für eine grobe Abschätzung könnte man ja zumindest verschiedene Szenarien durchrechnen, etwa unter der – leider nicht allzu unrealistischen – Annahme einer konstanten, zu niedrigen Durchimpfungsrate. Falls solche Berechnungen irgendwo angestellt wurden, dann erreichen sie offenbar nicht die ratsuchende Bevölkerung. Finden konnte ich jedenfalls nichts.

In solch einem Fall muss man schwerere Geschütze auffahren. Hier half mir konkret, dass zwei Wiener Skeptiker-Kollegen, der Psychologe Andreas Hergovich und der Medizin-Informatiker Daniel Kürner, zu genau dieser Thematik eine E-Mail-Diskussion führten, in die ich am Rande selbst involviert war. Die beiden haben den Datenwald durchforstet, Tabellen zur Altersklasseninzidenz gewälzt, alle möglichen Risiko- und Wahrscheinlichkeitsangaben einander gegenübergestellt und damit das Bayes’sche Theorem für bedingte Wahrscheinlichkeiten gefüttert. Das Resultat ist ein (bislang unveröffentlichter) Artikel, aus dem, um es kurz zu machen, unter diversen vereinfachenden Annahmen schließlich eine Zahl herauskommt: 74. Eines von 74 ungeimpften Kindern wird demnach voraussichtlich irgendwann an Masern erkranken, also etwa 1,4%.

Alle diese Zahlen sind derart mit Unsicherheiten behaftet, dass es wenig Sinn macht, allzu genau sein zu wollen. Führen wir also eine Größenordnungsabschätzung durch und sagen wir Pi mal Daumen, die Komplikationsrate der Masern ist etwa 1.000 Mal so hoch wie die Komplikationsrate der Impfung, und das Risiko, ungeimpft an Masern zu erkranken, liegt bei etwa 1%. Die Komplikationsrate des Nicht-Impfens wäre dann rund 10 Mal so hoch wie die Komplikationsrate des Impfens.

Faktor 10 also. Das ist – zumindest der Größenordnung nach, und vorläufig – das gesuchte Komplikationsrisikoverhältnis, das Kürner und Hergovich hier mit einiger Mühe ermittelt haben. Wer bessere Daten hat, immer her damit! Ich jedenfalls bin von der Suche erschöpft, und auch etwas verärgert. Verärgert deshalb, weil ich den Eindruck gewonnen habe, dass gerade jene Daten, die für eine informierte Entscheidung oder für eine fundierte Argumentation pro Impfen notwendig wären, nicht so leicht verfügbar sind, wie sie es eigentlich sein sollten. Wie wir erfahren mussten, sind sogar die Infos, die man für eine Do-It-Yourself-Abschätzung benötigt, nur unter großen Mühen aufzutreiben. Man könnte fast ein bisschen paranoid werden. Ist der Faktor 10 etwa „zu klein“, um ihn öffentlich zu kommunizieren? Traut man sich das aus gesundheitspolitischen Erwägungen nicht? Oder sind die Unsicherheiten zu groß, um überhaupt eine Zahl sinnvoll kommunizieren zu können? Aber sollte das dann nicht genau so, wie es ist, dargelegt werden?

Am Ende bin ich also irgendwie doch auch beruflich mit der Materie beschäftigt. Impfen ist nämlich ein Spiel. Kein Kinderspiel, sondern ein Spiel, wie es in der Spieltheorie verstanden wird, also eine strategische Entscheidungssituation, in der der eigene Nutzen nicht nur von der eigenen Entscheidung, sondern auch vom Verhalten der anderen Akteure abhängt. Diese vaccination games, wie sie in der Fachliteratur heißen, haben eine gemeinsame Grundstruktur: Wenn niemand impft, sollte ich impfen. Wenn dagegen alle impfen, ist es individuell rational, nicht zu impfen. Der Erreger ist dann nämlich ohnehin ausgerottet und ich erspare mir das Risiko etwaiger Nebenwirkungen der Impfung. In einer Population von informierten Bürgern stellt sich unter Idealbedingungen ein stabiles Gleichgewicht ein, bei dem sich die Vorteile des Impfens und des Nichtimpfens gerade die Waage halten. Das Problem bei diesem Gleichgewicht ist, dass es mit einer Durchimpfungsrate unterhalb der im Fall der Masern für die Herdenimmunität notwendigen 92% einhergeht. Das gesundheitspolitisch erstrebenswerte Ziel der Ausrottung der Masern ist also in einer gut informierten Gesellschaft, in der jeder nur zum Wohl seiner eigenen Kinder frei entscheidet, gar nicht erreichbar.

Das ist natürlich ein Dilemma. Hat man sich die Ausrottung der Masern dennoch ernsthaft zum Ziel gesetzt, so bleiben offenbar nur zwei Lösungswege: man muss entweder das „gut informiert“ verhindern, oder das „frei entscheiden“. Oder beides. Nun, wir leben ja in einer Demokratie. Also, geschätzte Leserin, geschätzter Leser: Wie hätten Sie’s denn gerne…?

Ulrich Berger leitet das Institut für Analytische Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien und ist Vorsitzender der österreichischen Gesellschaft für kritisches Denken (GkD).


Letzte Änderungen: 07.07.2015