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Lab Cooking: Wirsing mit Weißwurst

Kai Herfort


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Vorurteilsbeladen, aber saulecker: Weißwurst und Wirsing. Fotos: Helga Lorenz und Kai Herfort

Zur Weißwurst kursieren jede Menge Vorurteile, die allesamt nicht stimmen. Man müsse sie noch vor dem Mittag essen, sonst würden sie verderben. Das war im 19. Jahrhundert so, als die Würste den ganzen Morgen lang ungekühlt offen auf dem Marktstand herumlagen. Und fett seien sie, das sähe man ja schon an der Farbe. Die Farbe erklärt sich jedoch durch die Abwesenheit von Nitritpökelsalz, denn hier kommt nur Kochsalz zum Einsatz. Und fetter als die meisten anderen Würste sind sie auch nicht – rechnen Sie mit etwa 25 Prozent Fett. Des Weiteren würden sie Gehirn enthalten. Demjenigen, der das behauptet, fehlt vielleicht selbst etwas davon, in die Weißwurst ist es aber nicht geraten. Und: Der Bayer würde stets ein Weißbier zur Wurst trinken. Auch das stimmt nicht – meistens sind es zwei oder mehr.

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Start up

Zur Weißwurst gäbe es noch viel zu sagen – etwa, dass sie vorwiegend aus Kalbfleisch besteht. Dazu kommen Schweinerückenspeck, allerlei Fett-, Haut- und Bindegewebsteile – auch vom Kalbskopf, nicht aber Gehirn. Das ist ja letztlich das Gute an Würsten: Sie bestehen nicht nur aus Muskelfleisch, sondern verwerten Vieles, was sich sonst an der Fleisch­theke nicht verkaufen ließe. Ein Tier besteht eben (noch) nicht nur aus Filet.

Die Weißwurst hat einen empfindlichen Darm, nämlich einen vom Schwein. Beim Kochen platzt er. Die meisten Weißwurstesser essen den Darm nicht mit, sondern entfernen ihn auf die eine oder andere Weise vor dem Reinbeißen. Muss aber nicht sein.

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Kohl schneiden

Doch eigentlich ist hier gar nicht die Weißwurst der Star, sondern der Wirsing. Genau genommen könnte man zum Wirsing auch jedes andere Stück Fleisch zubereiten. Oder auch Tofu oder Getreide-Bratlinge. Aber die Weißwurst harmoniert einfach perfekt zur leichten Deftigkeit und milden Säure dieses Wirsingrezepts.

Wie inzwischen jedes Gemüse und jedes Obst finden wir den Wirsing das ganze Jahr über im Supermarkt oder am Marktstand. Er liegt dort neben Weiß-, Rot- und Rosenkohl. Und er ist der perfekte Einstieg in die Kohlsaison. Die Älteren unter uns können sich vielleicht noch daran erinnern, dass es früher im Winter nur Kohl, alte Kartoffeln, alte Möhren und Feldsalat zu kaufen gab.

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Feldsalat und Petersilie häckseln

Dank Gewächshäusern, Folien und Handelsbeziehungen gibt es inzwischen alles und immer. Das kann man durchaus begrüßen. Es führt aber auch dazu, dass beispielsweise viele einheimische Apfelbauern nach einem traumhaften Apfelsommer mit reicher und aromatischer Ernte auf ihren Äpfeln sitzen bleiben. Die Supermärkte sind dafür voll mit Äpfeln aus Argentinien, Südafrika und Chile. Die sind in fetten Schiffsbäuchen weniger gereift als vielmeer seekrank geworden – und können geschmacklich mit der einheimischen Ware nicht mithalten, sind aber billiger.

Da sind Sie als Verbraucher gefragt: Tun Sie das Richtige! Kaufen Sie zwei deutsche Äpfel und geben Sie sie zum Wirsing.

Das erscheint vielleicht ungewöhnlich, ebenso wie der Becher Schmand und der Feldsalat – hier auch Bestandteile der Wirsingzubereitung. Aber die Süße der Äpfel, die milchige Säure des Schmands und die Frische des Feldsalats lassen einen schönen Akkord erklingen, zu dem der Kohl sein Solo spielen kann.

Einkaufsliste
für 2 Personen

» Weißwürste:4 Stück
» Wirsing:1 Kopf
» Zwiebel:1
» Äpfel:2
» Feldsalat:1 große Handvoll
» Petersilie:1 Bund
» Schmand:1 Becher (200 g)

Außerdem:Erhitzbares Öl oder Butter, süßer Senf, Salz.

Material:» 3 Schälchen
» 1 große Pfanne
» 1 Pfannendeckel
» 1 Pfannenwender
» 1 Kochmesser
» 1 Küchenmesser
» 1 Sparschäler
» 1 Herdplatte
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Äpfel schnibbeln
Los geht‘s!

» Weißwürste erhitzen: Kochen sollten sie nicht. Man sollte sie 10 bis15 Minuten bei etwa 70 °C in leicht gesalzenem Wasser erhitzen.

» Wirsing putzen und kleinschneiden.

» Äpfel schälen und kleinschneiden.

» Feldsalat und Petersilie häckseln.

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Schmand dazu geben

» Zwiebeln kleinschneiden.

» Braten: In einer großen Pfanne zwei Esslöffel Öl oder ein Stück Butter erhitzen. Die Zwiebeln und einen Apfel kurz glasig braten. Dann den Wirsing und zwei Teelöffel Salz dazugeben. Unter gelegentlichem Umrühren braten. Nach fünf Minuten den Deckel drauf. Nach nochmal fünf Minuten den ­Schmand zugeben und abgedeckt weiterbraten.

» Zum Schluss: Nach weiteren fünf Minuten, wenn der Wirsing etwas Farbe verloren hat und leicht glasig wird, den anderen Apfel, den Feldsalat und die Petersilie dazugeben und nur solange in der Pfanne lassen, bis alles erwärmt ist. Dann mit Salz abschmecken.

» Servieren: Die Weißwürste direkt aus dem Wasser auf den Teller, an Land werden sie bald gelblich. Ach ja: Ohne süßen Senf ist‘s keine richtige Weißwurst. Auch ein Radi (ugs. Rettich) passt dazu.

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Finale: Grünzeug dazu
Kohls Familie

Alle gängigen Kohlsorten sind Kreuzblütengewächse, Familie Brassicaceae. Hierzu zählen auch Senf, Rucola, Kresse, Rettich, Meerrettich und Chinakohl. Was wir als Kohl einkaufen, sind Zuchtformen. In Deutschland gibt es nur eine Wildform, Brassica oleracea – und die nur auf Helgoland.

Kohl wehrt sich

Wenn Sie mit dem Messer auf Kohl losgehen, denkt dieser, er werde gefressen. Er wehrt sich mit seiner chemischen Zweikomponenten-Keule gegen den vermeintlichen Fressfeind. Das Messer durchdringt Zellwand und Plasmamembran, als wären sie nichts. Nur kurz ist sein Weg durch das Zytoplasma. Vorbei an etlichen Molekülen des Enzyms Myrosinase trifft es schnell auf die Vakuole. Auch deren Membran leistet der Klinge kaum Widerstand. Der Vakuoleninhalt, darunter jede Menge verschiedener Senföl-Glycoside, mischt sich mit dem Zytoplasma.

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Wilder Kohl auf Helgoland. Foto: Yikrazuul

Jetzt macht sich die Myrosinase über die Senföl-Glycoside her. Dabei werden neben Glukose aber auch viele bittere und beißend-scharfe Geschmacksstoffe freigesetzt. Ein Tier würde an dieser Stelle seine Zähne aus dem Kohl ziehen und sich spuckend und schimpfend vom Acker machen. Dem Messer ist das egal. Das Messer überlässt den zerlegten Kohl seinem Kumpel, dem Kochtopf – und der wird schon fertig werden mit den Isothiocyanaten, dem Sulforaphan und dem 4-Hydroxy-Brassicin. Aber so ganz loswerden will man die chemischen Gesellen gar nicht. Die machen schließlich den typischen Kohlgeschmack aus.

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Senföl-Glycosid. Foto: Yikrazuul

Durch die Art der Zubereitung kann man großen Einfluss auf den Kohlgeschmack nehmen. Je kleiner man den Kohl schneidet, desto mehr Aromaverbindungen entstehen durch die freigesetzten Enzyme. Weicht man dann die geschnittenen Blätter ein, werden viele der Aromastoffe herausgewaschen. Es wird milder. Auch Hitze hat natürlich seine Auswirkungen auf den Geschmack. Bei 60 °C haben Myrosinase und Co. ihr Optimum. Erst zum Siedepunkt hin stellen sie ihre Tätigkeit ein. Beim schnellen Erhitzen bleiben also viele Senföl-Glycoside erhalten und weniger Spaltprodukte entstehen. Das muss aber nicht unbedingt von Vorteil sein, weil manche Senföl-Glycoside selbst bitter schmecken.

Sie sehen, das mit dem Kochen ist gar nicht so einfach. Am besten, Sie haben Biochemie studiert. Oder Ihrer Großmutter wissbegierig über die Schulter geschaut.



Letzte Änderungen: 06.12.2018