Editorial

Buchbesprechung

Sigrid März




Andreas Brandhorst:
Ewiges Leben
Piper-Verlag (2018)
Sprache: Deutsch,
704 Seiten
Preis: 16,99 Euro (broschiert)
Eden auf Erden

Der Tod. Alles läuft darauf hinaus. Der Tod ist das Ende des physischen Lebens, wie der Mensch es auf diesem Planeten kennt. Kompromisslos. Unausweichlich. Überwältigt von dieser Erkenntnis macht sich der Wissenschaftler Pascal Salomon Leclerq auf, dies zu ändern. Sein Ziel: „Ewiges Leben“.

Zwanzig Jahre später. Der Megakonzern Futuria hat die Biotechnologie revolutioniert. Mithilfe der CRISPR/Cas-Weiterentwicklung SUSGE, Schnellem und Sicherem Genome Editing, zerschnippeln Wissenschaftler das menschliche Genom und setzen es beliebig wieder zusammen. Die Menschheit steuert in eine Zukunft ohne Krankheit, ohne Leid und – so verspricht es Futuria – eine Zeit des ewigen Lebens für jedermann. Aber: Wie viele unsterbliche Menschen kann die Erde ertragen?

Die werden es schon schaffen

Die Folgen des Klimawandels sind in „Ewiges Leben“ allgegenwärtig: Hitze, Trockenheit, Wetterextreme. Das beschäftigt auch Papst ­Pius XIII: „Die Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt, in den Tundren dieser Welt taut der Permafrostboden und setzt große Mengen an Methan frei, das den Treibhauseffekt noch weiter verstärkt. Wir sind über den Punkt hinaus“ (Seite 88). Das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche ist dem wissenschaftlichen Fortschritt nicht abgeneigt, sieht mehr die Notwendigkeiten und Chancen als mögliche Gefahren. Kurz: Er glaubt daran, dass Futuria es schon richten wird.

Der gleichen Meinung ist auch die Journalistin Sophia Marchetti, die zum zwanzigjährigen Bestehen des Unternehmens einen Exklusivbericht über Futuria veröffentlichen darf. Die auch Impietosa genannte Frau, die Verfechterin der Wahrheit, sieht darin keinen Zwiespalt, wenngleich Futuria in regelmäßigen Abständen ihre bösartige Krebserkrankung therapiert. Sie ist der Überzeugung, dass Futurias Weg der richtige ist.

Futuria hat jedoch noch ein zweites Standbein: künstliche Intelligenz. Auch hier haben zwei Dekaden Entwicklungsarbeit Erstaunliches hervorgebracht. Virtual und Augmented Reality ist Normalität, die Flucht in virtuelle Welten, Eden, gehört zum Alltag. Jeder kann sich seine Welt gestalten, wie es ihm beliebt. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt: Raumstationen mit Zombies, Duelle in Wildwestmanier, ein überflutetes New York. Aber Eden kann noch mehr: Diese virtuelle Welt, ein komplexer Algorithmus, kann Existenzen dauerhaft aufnehmen. Biokybernetische Schnittstellen verknüpfen das menschliche Hirn mit der virtuellen Realität, und erlauben gar den Transfer des Bewusstseins. Ein körperloses, unendliches Leben aus Einsen und Nullen, über den physischen Tod hinaus. „Wenn die Simulation so gut ist, dass die menschliche Wahrnehmung die simulierte Welt nicht von der Wirklichkeit unterscheiden kann – welchen Sinn hat es dann, zwischen Schein und Realität unterscheiden zu wollen?“ (Seite 270), fragt deshalb nicht zu Unrecht der Arzt Ignazio.

Zweimal ewiges Leben, zweimal Futurias Vision. Ein bedenkliches Konstrukt.

Wenig verwunderlich mehren sich die kritischen Stimmen der Unheilspropheten und Verschwörungstheoretiker, gebündelt und manifestiert in Jossul. Der Traditionalist, manch einer ließe sich vermutlich zur Einordnung als Fundamentalist hinreißen, hört Gottes Stimme und will den zweiten Sündenfall des Menschen, das ewige Leben, um jeden Preis verhindern. Gemeinsam mit seinen Cherubim zieht Jossul deshalb in den Krieg, gegen Futuria, gegen den Papst, gegen die Menschheit.

Auch Marchettis Zweifel wachsen; die journalistische Neugierde obsiegt und zwingt sie und ihren Kollegen Borris Ekström, hier und dort etwas genauer hinzuschauen. Nicht ganz unschuldig daran ist Casper, der erstaunlich gut Bescheid weiß. Wer, oder besser was ist er? Wieso muss er sich verstecken, und vor wem?

Auf einmal gibt es mehr Fragen als Antworten, und mit jeder Antwort bröckelt Futurias Weltretterfassade ein wenig mehr. Es beginnt die Suche nach der Wahrheit, nach dem Wissenschaftler Pascal Salomon Leclerq und dem ominösen Projekt M.

Science und Fiction

Andreas Brandhorst ist kein Unbekannter. Der vielfach mit Preisen ausgezeichnete norddeutsche Autor und Übersetzer schaut gern in eine düster-dystopische Zukunft. Dabei legt er eine beachtenswerte Produktivität an den Tag. Allein dieses Jahr – somit nach dem im vergangenen Herbst erschienenen „Ewiges Leben“ – veröffentlichte Brandhorst drei weitere Romane, keiner dünner als 460 Seiten. Da darf man schon von einer gewissen Routine sprechen.

Ebendiese lässt die Sprache angenehm fließen und sorgt so für ein unterhaltendes Lese­vergnügen. Parallele Erzählstränge, hauchzart aneinander vorbeischrammend und sich dann doch wieder entfernend, verbinden sich zum Schluss zum großen Ganzen. Auf der einen Seite stehen wissenschaftliche Fakten, auf der anderen Seite ergehen sich Brandhorsts fein gezeichnete Charaktere in philosophischen Überlegungen zu Göttlichkeit und Glauben. Parallelen zur biblischen Schöpfungsgeschichte („Und Gott sah, dass es gut war.“) sind kaum zufällig: „Die weiße Frau blickte dem Bison nach und sah, dass ihr Werk gut war.“ (Seite 473). So wird Mutter, die Wächterin von Eden, zu weit mehr als einem künstlichen Super-Algorithmus; ein faszinierendes Gedankenexperiment. Da sei es auch verziehen, dass das Ende etwas an Spannung verliert und sich stellenweise zu perfekt und überstürzt auflöst.

Leseempfehlung für Fans dunkler Zukunftsvisionen.





Letzte Änderungen: 10.10.2019