Buchbesprechung

Brynja Adam-Radmanic

Editorial

Norbert Sachser:
Der Mensch im Tier

Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
Verlag: Rowohlt Buchverlag; Auflage: 3. (26. Juni 2018)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 9783498060909
ISBN-13: 978-3498060909
ASIN: 3498060902
Preis: 20,– Euro (gebunden) 16,99 Euro (eBook)

Editorial
Faszination Verhalten

Unser Tierbild folgt dem beständigen Wandel der Verhaltensbiologie. Ein neues Sachbuch erzählt die Geschichte ihrer Konzepte und erklärt den damaligen und heutigen Erkenntniswert von Instinkten und Konditionierung, von Arterhaltung und Verwandtenselektion, von Gen-Umwelt-Interaktionen und dem „Emotional Turn“.

Während manche als komplex geltende Disziplinen um öffentliche Aufmerksamkeit ringen, liegt das Kommunikationsproblem anderer Fächer eher darin, dass das Publikum großes Interesse aber auch einige Fehlvorstellungen hat. In der Verhaltensbiologie etwa existieren viele eigene Überzeugungen in den Köpfen der Menschen. Daher ist Fingerspitzengefühl gefragt, um die Leute nicht vor den Kopf zu stoßen, die sicher sind, dass ihr Hund jedes Wort versteht, das sie sagen.

Ein Forscher, der diese Art von Aufmerksamkeit in den letzten Jahren mit Ruhe und Geschick für die Vermittlung von Wissenschaft zu nutzen verstand, ist der Leiter des Instituts für Verhaltensbiologie in Münster, Norbert Sachser. Mit viel Leidenschaft für die Forschung hat er sich in Vorträgen und Presseanfragen dem bunten Interesse der Öffentlichkeit gestellt und offenkundig viel darüber gelernt, was wir als Gesellschaft über tierisches Verhalten wissen oder zu wissen meinen.

Darwins erste Gedanken

Denn in seinem Buch „Der Mensch im Tier“, das im Juni im Rowohlt Verlag erschienen ist, ist viel Erfahrung in der Wissenschaftskommunikation zu spüren. Sachser führt seine Leserschaft durch die Geschichte der Verhaltensbiologie – von den ersten Gedanken Darwins zur Verhaltensevolution über die Begründung des Faches Ethologie durch Konrad Lorenz, Karl von Frisch und Nikolaas Tinbergen bis zu der aktuellen Erforschung von Themen, die lange als wissenschaftlich nicht greifbar galten, wie tierische Emotionen oder die Persönlichkeit einzelner Tiere.

Am Beispiel von besonders eindrücklichen Studien gibt er einen Überblick über heutiges Wissen – etwa über das Wechselspiel der Einflüsse von Genen und Umwelt auf das Verhalten, über Lernen und Ich-Bewusstsein oder über Stress und Wohlbefinden. Um die Fortschritte vermitteln zu können, geht er auch auf die Entwicklung von Methodik ein. So entstanden Passagen, die zugleich Einführungen in wissenschaftliches Denken sind, weil sie Fehler vorstellen, die beim Beobachten und Schlussfolgern passieren können, und wie sie vermieden werden können.

Sanft aber bestimmt nimmt er im Buch viele der Vorstellungen auseinander, die in der Bevölkerung kursieren und nicht (mehr) auf dem neuesten Stand der Forschung sind. So erfreut sich die Idee, ein Tier verhalte sich stets zum „Wohle der Art“, noch einiger Beliebtheit. Doch dieses von Konrad Lorenz popularisierte Konzept wurde in der Forschung inzwischen fallengelassen und Sachser erklärt, welche soziobiologischen Erkenntnisse dazu führten, dass die Erklärungen heute auf Individual- und Verwandtenselektion beruhen.

Potenziell Weltbild-verändernde Daten hat er auch für jene im Gepäck, die zur Romantisierung von Natur neigen und Tiere gern als „bessere Menschen“ sehen. Die Annahme etwa, tierische Grausamkeiten seien nicht natürlich, sondern kämen nur unter schädlichen menschlichen Einflüssen vor, konnte die Forschung nicht bestätigen. Sachser macht stattdessen damit vertraut, dass evolutionäre Mechanismen leider nicht nur Harmonie und Fürsorglichkeit hervorbringen, sondern auch Nötigung oder das Töten von Rivalen-Nachwuchs.

Oft kann er auch auf Forschung seiner eigenen Arbeitsgruppe verweisen, vor allem wenn es um den verhaltensprägenden Einfluss von Sozialstruktur und Erfahrung geht. An ihrem Modellsystem, dem Meerschweinchen, haben Sachser und sein Team auf diesem Feld entscheidende Entdeckungen gemacht.

So fanden sie etwa, dass bestimmte soziale Erlebnisse der Mutter während der Trächtigkeit das Verhalten des Nachwuchses in geschlechtsspezifischer Weise verändern. Oder dass Meerschweinchen-Jungs, die in der Pubertät keinen Kontakt mit dominanten Männchen hatten, später nicht mehr lernen können, sich friedlich in größere Gruppen zu integrieren. Wichtig ist ihm bei Ergebnissen wie diesen, davor zu warnen, das entstandene, abweichende Verhalten vorschnell als pathologisch zu deuten.

Vielmehr habe die weitere Forschung gezeigt, dass diese Verhaltensänderungen adaptiv sind. Die Hormone, welche die trächtige Mutter bei Stress produziert, verändern den ungeborenen Nachwuchs in einer Weise, die ihn an eine stressreiche soziale Umwelt anpasst. Und die Kleingruppensituation in der Pubertät des Männchens führt zur Einstellung seines Verhaltens auf eine geringe Popula­tionsdichte, in der es für ein Männchen nachgewiesenermaßen aussichtsreicher ist, seine Fortpflanzungschancen durch erhöhte Aggression gegenüber Fremden zu sichern.

Auch bei der Verbesserung der Haltungsbedingungen von Haus-, Nutz- und Versuchs­tieren kann Sachser auf eigene Studien verweisen. Stresshormon-Untersuchungen in Kombination mit Verhaltensbeobachtungen und neu entwickelten Tests erlauben heute eine Einsicht in das psychische Wohlergehen von Tieren, die früher undenkbar war. So erläutert Sachser etwa, wie Forscher feststellen können, welche Tierart welche Haltung präferiert und was für sie dabei unverzichtbar ist. Oder auch, auf welche Weise rückwirkend festgestellt werden kann, wie gut die Haltung war, aus der Tiere kommen.

Tier im Mensch, Mensch im Tier

Über sein Leitmotiv des Buches schreibt Sachser im Vorwort: In interdisziplinären Aktivitäten sei sein Bewusstsein dafür geschärft worden, dass nicht nur sehr viel Tier im Menschen, sondern auch umgekehrt sehr viel Mensch im Tier zu finden ist. Letzteres sei für ihn „die wesentlich spannendere Perspektive“. Besondere Berücksichtigung findet im Buch also, was ehemals als menschenspezifisch galt und im Tier erst entdeckt oder erforschbar gemacht werden musste.

Weil er mit Fachbegriffen sparsam ist und auf Klarheit und Allgemeinverständlichkeit achtet, kann Sachsers Buch Einsteigern und interessierten Tierhaltern und -liebhabern empfohlen werden. Seine Ausführungen haben aber zugleich genügend Substanz und Tiefgang, dass auch Biologen anderer Disziplinen, die einen Eindruck vom neuesten Stand der Verhaltensforschung gewinnen wollen, ihre Freude mit dem Buch haben werden.



Letzte Änderungen: 06.12.2018