Buchbesprechung

Sigrid März

Editorial

Greg Bear:
Die Darwin-Kinder

Taschenbuch: 560 Seiten
Verlag: Heyne Verlag (6. Februar 2006)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3453520351
ISBN-13: 978-3453520356
Preis: 7,99 Euro (Taschenbuch)

Editorial
Evolution auf der Überholspur

„Darwin“ in der Überschrift allein macht noch kein gutes Buch. Der Rezensentin gefällt Greg Bears Fortsetzung seines 2001er-Werkes „Das Darwin-Virus“ nicht. Eine „Ent“-pfehlung inklusive Spoiler.

Etliche Jahre sind vergangen, seit das US-amerikanische Science-Fiction-Urgestein Greg Bear die Protagonisten-Kleinfamilie aus Das Darwin-Virus zurückließ. Virusforscherin Kaye Lang, Archäologe Mitch Rafelson und ihre Tochter Stella Nova sind auf der Flucht, denn Stella Nova ist anders.

Rückblick: Nachdem sich ein uraltes Retrovirus (HERV, humanes endogenes Retrovirus) im menschlichen Genom verselbständigt, werden schwer fehlgebildete Kinder tot geboren. Von der Herodes-Grippe ist die Rede, von einem Fluch, vom Ende der Menschheit. Schwangere werden zu Abtreibungen gedrängt, aber SHEVA (oder auch Sherva-DL3, ein infektiöses HERV) lässt sich nicht mehr aufhalten. Der Name SHEVA ist in Anlehnung an Shiva gewählt, der hinduistischen Gottheit der Zerstörung und Neuerschaffung. Denn Forscher wie Kaye Lang vermuten, dass das Virus mehr ist als eine Baby-Killermaschine: nämlich beschleunigte Evolution! Davon sind aber weder die Obrigkeiten noch die Bevölkerung begeistert, und so kommt es zu Tumulten und Aufständen. Panik bricht aus.

SHEVA ist nicht neu, lernt der Leser in zahlreichen parallelen Erzählsträngen in Das Darwin-Virus: Eine Gletscherhöhle mit einem Neandertaler-Paar und ihrem neugeborenen Kind, offensichtlich einem Neuzeitmenschen. Ein Massengrab in Georgien mit schwangeren Frauen, die äußerliche Anzeichen einer SHEVA-„Infektion“ zeigen. Seit Urzeiten wird die Menschheit mit derartigen Evolutionssprüngen konfrontiert und scheitert an ihrer eigenen Angst vor Veränderungen.

Dann passiert es aber doch – die ersten lebenden SHEVA-Kinder werden geboren. Kinder mit ein paar Chromosomen mehr; mit Vomeronasalorganen, mit denen sie feinste Pheromon-Ausdünstungen wahrnehmen; mit chromatophoren Zellen im Gesicht, mit denen sie Stimmungen ausdrücken, aber auch mit ihresgleichen kommunizieren; mit Drüsen, die (manipulative) Düfte produzieren; mit einem modifizierten Sprechapparat, der es ihnen erlaubt, zwei Sätze gleichzeitig zu artikulieren oder zu zwitschern, wie Bear es nennt. Stereo-Twittern quasi. Kinder wie Stella Nova.

Die „alten“ Menschen haben Angst vor diesen „neuen“ Menschen. Angst davor, dass sie infektiös sind, Böses wollen oder dass diese „neuen“ Menschen einfach besser sind als sie selbst: Survival of the Fittest – Darwins (oftmals fehlinterpretiertes) Erbe. Und so werden SHEVA-Familien kriminalisiert und müssen entweder aufgeben oder sich verstecken.

Damit beginnt der Folgeband Die Darwin-Kinder, zwölf Jahre nach der ersten Generation SHEVA-Kinder. Zehntausende dieser Kinder sind in Lagern interniert oder werden von der Regierung und Kopfgeldjägern verfolgt. Nach Jahren nervenaufreibender Flucht werden auch Stella Nova und ihre Eltern aufgegriffen, das Kind kommt in eine der sogenannten Schulen. Zeitsprung, drei Jahre später. Mitch und Kaye haben sich getrennt, Stella Nova kultiviert ihr Anderssein mit weiteren SHEVA-Kindern, wobei die Lageraufseher genau das zu unterdrücken versuchen. Zeitsprung, wieder drei Jahre sind vergangen. Stella Nova gelingt die Flucht, sie trifft auf weitere SHEVA-Menschen, die in einer Art geheimer Kommune im Wald leben.

Um die Geschichte platziert Bear wie gewohnt jede Menge Wissenschaft und etliche Nebengeschichten, von Kaye, Mitch und Virusjäger Christopher Dicken, der auch dieses Mal wieder mit von der Partie ist.

Das Ende der Menschheit

Die Idee eines sich aus dem Genom herauslösenden Virus ist genial. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist das näher an einer möglichen Realität als andere Werke von Bear. In „Blutmusik“ etwa entwickeln von dem – nach eigener Meinung massiv unterschätzten – Forscher Vergil Ulam erschaffene Leukozyten ein kollektives Bewusstsein und modeln fortan die Menschen und den Planeten dergestalt um, wie sie es für richtig und logisch halten. Weltuntergangsfantasie, schaurig-skurril und packend erzählt.

Die Darwin-Bücher handeln ebenfalls vom Ende der Menschheit, wie wir sie kennen, aber weniger invasiv, subtiler. Leider schöpft Bear das Potential, welches eine solche Geschichte mit sich bringt, nicht ansatzweise aus. Während Das Darwin-Virus, mit einem Nebula Award prämiert, immerhin hier und da mit spannenden Passagen aufwartet, sucht sie der Leser in Die Darwin-Kinder vergebens. Die Handlung plätschert so dahin, unterbrochen von nervigen Zeitsprüngen. Was in den jeweils unerzählten drei Jahren passiert, bleibt größtenteils unklar. Die Charaktere kommen oberflächlich und blass daher: Der SHEVA-Junge Will, eine für die Handlung und Stella Nova wichtige Person, bleibt nebulös; der skrupellose Wissenschaftler Doktor Aram Jurie vom Zentrum für Pathogenese, der auch vor Menschenversuchen nicht zurückschreckt, nur eine kleine Nebenrolle. Das sind die Nebenschauplätze, die interessieren, die erzählt werden wollen. Oder die SHEVA-Kinder, die „neuen“ Menschen mit all ihren Fähigkeiten. Sie bauen in den Lagern eine Parallelgesellschaft auf, die kooperativ statt kompetitiv daherkommt. Das allein birgt so viel Erzählpotential. Leider nicht genutzt, schade.

Stattdessen ereilen Kaye Lang immer wieder Visionen, übersinnliche Begegnungen mit dem „Sucher“, einem Phänomen bedingungsloser Liebe und Akzeptanz. Kurzum: Kaye findet zu Gott. Oder Gott findet Kaye. Wie man es drehen mag. Der Sinn dieses Erzählstranges erschließt sich bis zum Schluss nicht. Ganz im Gegenteil: Er lastet der Handlung unnötige Längen auf.

Stattdessen hätte Bear die bereits vorhandene Handlung vertiefen und in einen logischen Kontext bringen sollen. Wie kann es sein, dass es zu Zeiten der Herodes-Grippe zu gewalttätigen Tumulten, mordenden Ehemännern sowie einem tödlichen Anschlag auf den US-Präsidenten kommt und später zur Internierung der SHEVA-Kinder in Lagern, die ebenfalls gegen Pöbel verteidigt werden müssen. Und dann klingt gegen Ende des Romans an, dass nach ein paar Gesetzesänderungen und archäologischen Funden die Lager aufgelöst und die Kinder beziehungsweise jungen Erwachsenen der „neuen“ Menschen in die Gesellschaft integriert werden. Wie bitte? Einfach so? Der Widerstand der Bevölkerung aus „alten“ Menschen, die vor kurzem noch alle SHEVA-Menschen auslöschen wollten, wie weggeblasen? Das ist selbst für Science Fiction zu viel Fiction.



Letzte Änderungen: 05.06.2018


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