Editorial

Buchbesprechung

Winfried Köppelle






Bruce Alberts, Alexander Johnson, Julian Lewis, Martin Raff, Keith Roberts, Peter Walter (Übersetzung herausgegeben von Ulrich Schäfer): Molekularbiologie der Zelle

Gebundene Ausgabe: 1990 Seiten
Verlag: Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA; Auflage: 5. vollständig überarbeitete Auflage (13. April 2011)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3527323848
ISBN-13: 978-3527323845
Preis: 129,00 EUR



Bruce Alberts, Dennis Bray, Karen Hopkin, Alexander Johnson, Julian Lewis, Martin Raff, Keith Roberts & Peter Walter (Übersetzung herausgegeben von Jochen Graw): Lehrbuch der Molekularen Zellbiologie

Taschenbuch: 936 Seiten
Verlag: Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA; Auflage: 4. vollständig überarbeitete Auflage (18. April 2012)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3527328246
ISBN-13: 978-3527328246
Preis: 72,90 EUR



Rezension: 2x molekulare Zellbiologie: Buch der Bücher

Die Bibel der Zell- und Molekularbiologen wurde in der fünften Auflage komplett runderneuert. Sie kostet 129 Euro und ist jeden Cent wert. Und für die Besitzer kleinerer Geldbeutel hat sie ihre kleine Schwester mitgebracht.

Die hauseigene Statistik des Internet-Warenhauses Amazon bietet bemerkenswerte Einblicke in die Psyche wie ins Freizeitverhalten deutscher Naturwissenschaftler. Zum Beispiel erfährt man über die Erwerber der Molekularbiologie der Zelle:

„Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch Dr. House – Season 5“.

Übliche Käufer der Molekularbiologie der Zelle sind Studenten und Doktoranden der Biologie, dazu wohl ein paar Mediziner und Biochemiker. Wie es scheint, vergnügen sich diese in ihrer Freizeit mit den fiktiven Erlebnissen eines boshaften, drogensüchtigen und an Wahnvorstellungen leidenden Zynikers. Dr. House als heimliche Identifikationsfigur künftiger Gruppenleiter und Chefärzte? Oder dient die exzentrische Titelfigur lediglich dazu, allabendlich den angesammelten Laborfrust abzubauen?

Die Zelle

Dreimal Zellbiologie vom Feinsten: Unten die 1. Auflage von 1986, in der Mitte die 5. Auflage, oben die kleine Schwester. (foto: wk)

1986 erstmals in deutscher Fassung

Dr. House hat die Molekularbiologie der Zelle nie gelesen. Ein unverzeihlicher Kunstfehler, ist dieses grandiose Buch doch der lebenswissenschaftliche Lehrbuchklassiker schlechthin. Nur ein einziges anderes Lehrbuch – der Maniatis (Sie wissen schon: der legendäre 1982er CSH-Press-Wälzer mit dem offiziellen Titel Molecular Cloning: A Laboratory Manual) – genießt ein vergleichbares Prestige wie „die Zelle“. Der Maniatis allerdings ist ein nüchterner Praxisratgeber für notorische Laborbankfetischisten. Die „Zelle“ hingegen ist das bekannteste, meistgelobte und konkurrenzloseste theoretische Biologielehrbuch der vergangenen fünfundzwanzig Jahre. Vielleicht sogar aller Zeiten. Die beinahe schon abwertende Bezeichnung „Lehrbuch“ hat es nicht verdient. Denn es ist viel mehr.

Der Einstieg ins Biologiestudium

So manch hoffnungsfroher Nachwuchsbiologe ließ sich 1986 die erste deutschsprachige Auflage (dezent schwarz im stabilen Pappschuber) zum bestandenen Abitur schenken. Damals prangte noch Nobelpreisträger James Watson als Co-Autor auf dem Buchdeckel, davor der verantwortliche Hauptautor Bruce Alberts und gleich darunter das Kölner Biochemie-Urgestein Lothar Jaenicke als deutscher Herausgeber. Die Urversion der Molekularbiologie der Zelle besaß einen dicken, schwarzen und weitgehend chemikalienresistenten Einband (siehe Foto oben) und beinhaltete beeindruckende 1310 Seiten mit gut 1400 Abbildungen in schwarz-weiß-rot.

Der Spaß kostete ein für Studenten mittleres Vermögen von 128 Deutschmark. Wie gesagt: Glücklich, wer das Buch als Geschenk übereignet bekam.

Stabile Geldanlage

Das Geld war in jedem Fall gut angelegt. Erstens ließ sich die „Zelle“ noch Jahre später mit geringem Wertverlust auf dem Gebrauchtbuchmarkt verhökern. Und zweitens erwarb man ein Werk, das mit mindestens vier unorthodoxen Eigenschaften aufwartete, die hierzulande für ein Lehrbuch geradezu revolutionär waren:

  • eine lebendige, verständliche und ungekünstelte Sprache;
  • eine anschauliche, didaktisch exzellente und reichhaltige Bebilderung;
  • ungewöhnlich ausführliche Zwischenüberschriften, die das Wesentliche vorab zusammenfassten; sowie
  • ein luftiges, modernes und übersichtliches Layout mit viel Erholungs-Weißraum am Seitenrand.

Im Vergleich zu den üblichen, piefigen „typisch deutschen“ Lehrbuchschwarten wirkte „die Zelle“ trotz ihres hohen Gewichts unglaublich frisch und beschwingt – gerade als ob der jugendliche Brad Pitt Deutsch sprechen gelernt und gerade eine Stelle als Derrick-Nachfolger angetreten hätte, mit George Clooney als Polizeichef und Julia Roberts als Behörden­sprecherin.

Fünfte Auflage noch dicker

Vier Auflagen gab es seitdem und jede einzelne legte an Umfang zu. Seit der letzten, 2003, ist die Molekularbiologie der Zelle erneut gewachsen. Natürlich wurde die jetzt vorliegende, fünfte Auflage vollständig überarbeitet und aktualisiert sowie um weitere 130 Seiten aufgestockt.

Das Buch kostet 129 Euro und ist in fünf große Abschnitte unterteilt:

  • Einführung in die Zelle
  • Genetische Grundmechanismen
  • Methoden
  • Innere Organisation der Zelle
  • Zellen in ihrem sozialen Umfeld

Naturgemäß beanspruchen die beiden letzten Teile – in denen unter anderem sämtliche Transport-, Kommunikations- und Sortierungsvorgänge, Zellzyklus und Cytoskelett sowie Krebs und Immunsystem vorkommen – den Löwenanteil des Inhalts: rund 1100 der 1990 Seiten.

Der inzwischen über 90jährige Lothar Jaenicke wurde als Organisator der deutschen Übersetzung vom Göttinger Biophysiker Ulrich Schäfer abgelöst. Und letzterer weist im Vorwort auf die inzwischen enorme Bedeutung der Teildisziplin „molekulare Zellbiologie“ hin: Immerhin acht von zehn Nobelpreisen in Medizin/Physiologie beziehungsweise Chemie beträfen mehr oder minder auch Themen, die in diesem Buch abgehandelt würden: Ob RNA-Interferenz, embryonale Stammzellen, Telomere, GFP oder Ribosomenstruktur – all dies findet sich natürlich auch über weite Strecken in der Molekularbiologie der Zelle.

Eine tiefschürfende Begutachtung können wir uns sparen, denn welche Lobeshymnen sollte man zu diesem herausragenden Stück Fachliteratur noch anstimmen, die nicht bereits gesungen worden wären? Eine Rezension hat sich kurz zu fassen, selbst bei einem 1990-Seiten-Werk – und muss daher daran scheitern, diesem Jahrhundertwerk auch nur ansatzweise gerecht zu werden.

Umfassend und mit Liebe zum Detail

Nur soviel: Auch die neueste Auflage der „Zelle“ ist wieder mit Hochgenuss zu lesen. Wo immer man sie aufblättert und was immer man mit der Lektüre bezweckt – sich zu einem bestimmten Thema auf den neuesten Stand zu bringen, ein Detail nachzuschauen oder einfach nur spielerisch die naturwissenschaftliche Allgemeinbildung zu verbessern – man liest sich spontan fest und vergisst regelmäßig, warum man ursprünglich das Buch aufgeschlagen hat.

Vom Inhalt her ist die „Zelle“ so umfassend und aktuell, wie ein allgemeines Lehrbuch nur sein kann (und dabei natürlich zwangsläufig weit davon entfernt, „vollständig“ zu sein). Immer wieder fällt auf, mit wieviel Liebe zum Detail die Autoren zu Werke gingen. Das beginnt schon beim unkonventionellen Gruppenbild der sechs Autoren, die sich im Vorspann im 1966er-Revolver-Look des legendären Beatles-Plattencovers (frei nach Klaus Voormann) ablichten ließen – und endet mit einer mehr als reichhaltigen Medien-DVD-ROM, die auf der Innenseite des hinteren Buchdeckels auf den Leser beziehungsweise Betrachter wartet.

Auf dieser Silberscheibe finden sich rund 150 englischsprachige Kurzfilme, Videos und Animationen. Sie können Hornhautzellen beim Tanzen, Endosomen beim Fusionieren und verletzter Haut bei der Wundheilung zusehen; Sie können Killer-T-Zellen bei ihrem grausamen Werk beobachten und über die eindrucksvolle Dynamik staunen, mit der GFP-markierte Mikrotubuli durch die Gegend flitzen. Protonenpumpen-Liebhabern mit Sinn für schrägen Humor sei ferner die 37 Sekunden dauernde „ATP-Synthase-Disco“ ans Herz gelegt, dargeboten in Zeitlupe von vier dem Rezensenten unbekannten, aber bestens gelaunten japanischen Studenten.

Dazu sind sämtliche Abbildungen und Tabellen des Buches im Powerpoint und JPG-Format auf der DVD; ferner die Buchkapitel 21 bis 25 (warum eigentlich nur diese?) des englischsprachigen Originals als PDF.

Sie merken schon: Die Molekularbiologie der Zelle enthält, sowohl auf Papier als auch in digitaler Form, weit mehr Informationen, als sich ein Wissenschaftlerhirn merken kann. Schon von daher sollte sie in keinem Biologenbücherregal fehlen.

Zelle Cover

Die Autoren der Molekularbiologie der Zelle (links) sowie des Lehrbuchs der Molekularen Zellbiologie (rechts) in Abwandlungen der Cover legendärer Beatles-Platten.

Schriftgröße hart an der Grenze

Ein paar Härchen in der Suppe hat der Rezensent aber doch gefunden. Die Schrift etwa ist durchwegs deutlich kleiner als bei der ersten Auflage von 1986 und damit an der Grenze dessen, was noch als „angenehm lesbar“ empfunden wird. Die Zahl der menschlichen Gene liegt auch nicht bei 24.000 (Seite 20) oder 25.000 (Seite 1485), sondern eher bei 20-22.000. Die beiden letzten Abbildungen auf Seite 654 (die molekularen Strukturen einer Zelle bei 2 und 0,2 Nanometer) zeigen ein eng gepacktes molekulares Kalottenmodell und stellen damit die real vorliegenden Gegebenheiten nur sehr verzerrt dar (in Wahrheit ist hauptsächlich leerer Raum zwischen den einzelnen Atomen).

Unschön ist auch, dass die innere Buchrückseite hässliche Riss-Spuren erleidet, wenn man die dort bombenfest fixierte Media-DVD aus ihrer Papierhülle herauszuholen versucht. Immerhin wird der Buchdeckel aber durchs Herauslösen nicht perforiert wie bei der kleinen Schwester der „Zelle“, die unlängst in der 4., ebenfalls vollständig überarbeiteten Auflage erschienen ist und die ebenfalls eine reichhaltige Begleit-DVD enthält. Das Lehrbuch der Molekularen Zellbiologie, verfasst ebenfalls unter der Regie des UCSF-Professors Bruce Alberts, hat nur rund halb so viel Seiten und Abbildungen wie die große Schwester, und es kostet mit knapp 73 Euro auch nur etwas mehr als die Hälfte.

Der auf den ersten Blick offensichtlichste Unterschied zum „großen“ Alberts ist allerdings der, man kann es nicht anders sagen, unangemessen windige, dünnlappige Einband, der kaum stabiler als der eines Laborjournal-Heftes ist. Stellen Sie sich vor, Sie gehen ins Viersterne-Restaurant und bekommen vom Kellner Pappteller und Plastikbesteck vorgesetzt – so ungefähr kommt sich der Käufer des Lehrbuchs der Molekularen Zellbiologie vor. Für ein Buch dieser Preis- und Güteklasse ist dies schlicht peinlich, zumal Inhalt und sonstige Aufmachung vergleichbar zum großen Vorbild sind.

Windiger Einband, hochwertiger Inhalt

Konzipiert als „Einsteigerlehrbuch“, richtet sich der „kleine Alberts“ explizit an Studien­anfänger, Nebenfachstudenten, Bio­logielehrer und TAs. Neu hinzugekommen sind in der 4. Auflage Abschnitte zu Genetik, Meiose, den molekularen Grundlagen der Vererbung sowie das Kapitel „Wie sich Gene und Genome entwickeln“.

Als Prüfungsvorbereitung warten jeweils am Kapitelende Verständnisfragen und Übungsaufgaben (insgesamt mehr als 400) samt Lösungen auf den Leser sowie eine stichpunktartige Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte. Ein besonderes Schmankerl sind ferner die 20 „Meilensteine der Biologie“. Darin werden auf jeweils zwei bis drei hellgrün markierten und damit leicht auffindbaren Seiten klassische Experimente der Biologie dargestellt (zum Beispiel die Aufklärung des Replikationsmechanismus 1958 durch Matt Meselson und Frank Stahl, oder die „Jagd auf Motorproteine“, die in den frühen 1980er Jahren begann).

Inhaltlich gibt es an der „kleinen“ Zelle nichts auszusetzen. Wenn, ja wenn da nicht dieser labberige Einband wäre. Der vergällt einem die Freude an diesem exzellenten, mit Liebe und Herzblut gemachten Werk enorm.




Letzte Änderungen: 07.10.2012