Editorial

Buchbesprechung

Winfried Köppelle




Zeit-Edition Wissenschafts-Romane (12 Bände)
Verlag: Zeit Verlag
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen. 2011, insgesamt 4.432 Seiten
Sprache: Deutsch
Preis: 119,95 Euro.
Frisch aus der Riesenholzhirsch-Abteilung

Im Zeit-Shop wird ein 32 Zentimeter dickes Buchpaket zum Schleuderpreis angeboten, das ein dutzend Wissenschaftsromane über Sexualforschung, Paläoanthropologie, die Erfindung des Computers und die erste transatlantische Funkverbindung enthält. Lohnt sich der Kauf?

Die Zeitungsverlage spielen Tante-Emma. Und zwar seit dem 20. März 2004. Wer sich damals eine Wochenend-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung kaufte, bekam ein Gratisbuchexemplar von Milan Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins als Dreingabe. Es war der Startschuss für den Süddeutschen Verlag, einen gutgehenden Gemischtwarenhandel aufzuziehen.

Neben Kochbüchern und Actionfilmen wird im hauseigenen Verlags-Shop auch das „Piep Ei Alois“ angeboten. Die „Eieruhr zum Mitkochen mit drei verschiedenen Melodien“ kostet nur 19,90 Euro. Anspruchsvolle SZ-Leser greifen auch gerne zur Keks- und Kresseschale „Schwein“ (25,90 Euro), zum „Zefix! Bayrischen Fluch- und Schimpfkalender 2011“ (16,90 Euro), zur „Western-Edition der SZ-Cinemathek“ und zum „Degustationspaket der Süddeutsche Zeitung Vinothek“. Mit letzterem wird die Vorfreude aufs Weihnachstsfest „zu einer einzigartigen Genussreise“ – sofern Sie bereit sind, knapp 60 Euro zu berappen.

Zusatzgeschäft mit Piep-Eiern

Was haben Piep-Eier mit Qualitätsjournalismus zu tun? Eine Menge: Der Tüddelkram gleicht sinkende Anzeigen-Erlöse aus. Dank exorbitanter Gewinnmarge kann der Verlag somit das kostspielige Hobby pflegen, eine überregionale Tageszeitung herauszugeben. Vielleicht wird ja auch der Laborjournal-Verlag eines Tages nicht nur mit Klonkrieger-T-Shirts, sondern auch mit original Schwarzwälder Labor-Kuckucksuhren und schick bequasteten Doktorhüten Handel treiben?

Ja, das Nebengeschäft mit Piep-Eiern und Genussreisen brummt. Rauchende Colts und Bildungsbürgertum schließen sich nicht aus. Allein mit seiner 50-bändigen SZ-Bibliothek hat der Süddeutsche Verlag 60 Millionen Euro eingenommen; auch der DVD-Umsatz hat zweistellige Millionensummen erreicht. Kein Wunder, dass die Konkurrenz ebenfalls auf den lukrativen Nebenerwerbs-Zug aufgesprungen ist und Zeitungen nur noch aus nostalgischen Gründen anbietet.

Dekorative Accessoires

Bei einer bekannten Hamburger Wochenzeitung heißt der hauseigene Tante-Emma-Laden „Zeit-Shop“. Allerdings gibt es bei den Hanseaten keine Piep-Eier zu erwerben; dafür sündhaft teure Business-Taschen, noch teurere Nobel-Armbanduhren, das Smaragdcollier „Barock“ und den Buddhakopf „Supanburi“.

Hirsch
Foto: Zeit-Shop


Dazu die „Wanddekoration Riesenhirsch, gefertigt aus edlem Nussbaumholz“ für den bildungsbewussten Schalenwildjäger, der sich zwischen zwei Abschüssen noch schnell die neuesten Wochenzeitungsnachrichten reinzieht. Und wer schon einen Hirsch daheim hat, der greift eben ersatzweise zum hippen Wäscheständer „Mama“ aus massiver Esche (abgebildet auf Seite 56). Der ist mit 159,95 Euro sogar richtig billig und exklusiv zu erstehen im Zeit-Shop, der mit seinen dekorativen Nischenprodukten knapp zwanzig Prozent des WochenZeitungs-Umsatzes erwirtschaftet.

Für den nicht pirschenden Intellektuellen gibt es auch Bücher. Unlängst ist die Zeit-Edition Wissenschafts-Romane erschienen. Sie ist mit 119,95 Euro preiswerter als Nussbaumhirsch und Smaragdcollier. Die zwölf Hardcover-Bände umfassen stattliche 4.432 Seiten und werden im platzeffizienten Pappkarton in den Abmessungen 39 x 23 x 18 cm geliefert. Die Bücher selbst tragen einen geschmackvoll gestalteten Einheitslook; sie sind mit hübschen Schutzumschlägen und bunten Lesebändchen versehen und mit zehn Euro pro Band preiswert.

Ein Drittel Regalmeter

Große Werke bekannter Autoren sind darunter, etwa T.C. Boyles halbfiktiver Roman Dr. Sex um den amerikanischen Sexualforscher Alfred Kinsey, und Thomas Pynchons postmodernes Mammutwerk Mason & Dixon aus dem Jahr 1997, in dem auf 880 Seiten das Leben und Wirken zweier britischer Landvermesser im 18. Jahrhundert ausgebreitet wird.

Den im März 2005 auf deutsch erschienenen Boyle-Roman hatte der Rezensent schon gelesen und in einer Rezension folgendermaßen beurteilt: Ohne Feuer plätschert das Geschehen dahin und entwickelt zu keiner Zeit einen zündenden Funken. Vom legendären Sprachpfeffer, den seitenlangen Wortfeuerwerken und überraschenden Wendungen, die den Amerikaner berühmt machten, findet der Leser hier nur äußerst wenig. Stattdessen langweilt Boyle fast 500 Seiten mit flacher, emotionsloser Handlung, ehe er zu einem belanglosen Ende kommt.

Da Boyles frühe Romane wie Wassermusik und Grün ist die Hoffnung zu seinen Lieblingsbüchern zählen, fiel dem Rezensenten dieses Urteil seiner Zeit schwer.

Piep-Ei
Schnäppchen aus dem Tante-Emma-Laden der Süddeutschen Zeitung.


Mühsame Lektüre

Der von der Kritik hochgelobte Roman Die Gehilfin des Berliner Schriftstellers und Drehbuchautors Martin Kluger (erstmals erschienen 2006) vermag ebenfalls nicht vom Hocker zu reissen. Kluger schildert das fiktive Leben und Streben einer Berliner Laborkraft, die ausgangs des 19. Jahrhunderts nichts lieber wäre als eine „echte“ Wissenschaftlerin. In den Charité-Laboren der späteren Berühmtheiten Rudolf Virchow, Robert Koch, Emil Behring und Paul Ehrlich tut sie das ihre, um mit der einen und anderen kleinen Entdeckung das Wissen über Tuberkulose und andere Geißeln der Menschheit zu erweitern. Doch welch Drama: sie scheitert in der Männerwelt der Jahrhundertwende und muss Zeitlebens das bleiben, was im Titel steht: eine kleine und unbekannte Gehilfin.

Die Zeitgeschichtlichen Ereignisse und der historische Rahmen, den Kluger seiner Protagonistin aufspannt, sind weitgehend korrekt wiedergegeben;

auch die Details sind stimmig. Die Literaturkritik war beim erstmaligen Erscheinen der Geschichte vor fünf Jahren hellauf begeistert. Von einem „unglaublich spannenden und mitreißenden“ Roman war die Rede.

Der Laborjournal-Rezensent fand ihn langweilig. Er quälte sich durch den eigenwilligen Duktus des Autors: überlange, lakonisch formulierte Sätze, die durch jäh eingestreute Gedankensprünge (oft auch mitten im Satz) ein holprig-gewöhnungsbedürftiges Lese„vergnügen“ bieten und es teilweise fast unmöglich machen, dem verwickelten Geschehen mit dutzenden von Nebendarstellern zu folgen. Dass Kluger nur wenig Wissenschaft, dafür umso mehr soziale Missstände und die dramatische Armut jener Zeit darstellt, wäre zu verschmerzen – doch die erwähnt eigenwillige Sprache muss buchstäblich Seite für Seite erarbeitet werden und trieb den Rezensenten zur Verzweiflung. „Tränen des Mitleids und der Empörung“ (wie 2006 beim Rezensenten der Zeit) flossen bei ihm nicht. Eher Tränen der Anstrengung.

Langweiler bei Tisch...

Es geht noch zäher, wie uns John Casti, ein an der TU Wien lehrender Mathematik-Professor, beweist. Casti hatte einen tollen Einfall: Fünf berühmte naturwissenschaftliche Geistesgrößen treffen sich zu einer fiktiven Salonplauderei und diskutieren die Frage, ob Rechenmaschinen jemals wie Menschen denken werden – währenddessen die Leser nebenbei eine profunde populärwissenschaftliche Einführung in die künstliche Intelligenzforschung (KI) erhalten: Wie funktioniert das menschliche Gehirn im Vergleich zu einem Elektronengehirn?

In Das Cambridge Quintett hat Casti dieses Szenario als „Wissenschaftsfiktion“ verarbeitet. Er hätte es bleiben lassen sollen. Denn das Dilemma, an dem seine Geschichte krankt, ist die Abwesenheit jeglicher Handlung. Da sitzen sie nun an einem Tisch, die Superwissenschaftler C. P. Snow, Alan Turing, J. B. S. Haldane, Erwin Schrödinger und Ludwig Wittgenstein, und es passiert rein gar nichts. Drei der fünf Protagonisten hätte sich der Autor von vornherein sparen können, denn Snow, Schrödinger und Haldane haben außer Banalitäten, vermengt mit persönlicher Unbedarftheit („Aha, so ist das?“ oder „Falls die Uhr dort oben richtig geht, werde ich mich sputen müssen, wenn ich den Zug noch erreichen will“) inhaltlich nichts zum Gespräch beizutragen.

... halten ellenlange Monologe

Im Gegensatz dazu quasselt der Mathematiker Turing um so mehr und nervt seine fiktiven wie realen Mitmenschen mit ellenlangen Monologen, die Wittgenstein ab und zu unterbricht und dadurch noch unverständlicher werden lässt, als sie ohnehin bereits sind. Lediglich die verzweifelte Hoffnung auf eine überraschende Wendung (sowie ein übertriebener Hang zur Gründlichkeit) brachte den Rezensenten dazu, sich durch diese zähe, geisttötende Schwarte zu quälen.

Reine Zeitverschwendung. Unterhaltung: Null; Erkenntniszuwachs: Null. Falls Sie an KI interessiert sind, lesen Sie besser ein beliebiges Sachbuch zum Thema. Das ist dann auch trocken, aber Sie lernen wenigstens was.

Nur faule Eier in der Buchkiste? Nicht doch. In der Zeit-Edition findet sich zum Beispiel ein begeisterndes Buch über den schottischen Autodidakten John Harrison, der im Alleingang das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste (siehe Kasten auf Seite 56/57).

Die Zelle
Der Wäscheständer „Mama“ (Esche massiv) aus der exklusiven Haushaltswaren-Kollektion des Zeit-Shops: für läppische 159,95 Euro ein echtes Schnäppchen! (Foto: Zeit-Shop)


Urzeitliche Beziehungskiste

Der Roman Eden von Sybille Knauss, erstmals 2009 erschienen, ist ebenfalls eine Empfehlung wert. Er schildert in zwei Parallelsträngen zwei thematisch verflochtene und dennoch über Äonen getrennte Beziehungsdramen. Das erste ist prähistorisch und beschreibt die fiktive Lebens- und Gedankenwelt in einem urZeitlichen Vormenschen-Clan, dessen Mitglieder in der „Wiege der Menschheit“ Südostafrikas gerade die entscheidenden Schritte zur intelligenten Selbsterkenntnis machen.

Das andere Drama ist real. Es zeichnet die turbulente Beziehung des Paläoanthropologen-Ehepaars Mary und Louis Leakey Mitte des 20. Jahrhunderts nach: die unzähligen außerehelichen Liebeseskapaden des weltgewandten Ehegatten und die nie versiegende Zuneigung seiner unglücklich betrogenen Frau zu ihm, zu ihren Fossilien und Steinwerkzeugen und zu ihrer zweiten Heimat, der Olduvai-Schlucht im Norden Tansanias.

Die beiden alternierenden Erzählstränge bieten einen hochspannenden Einblick in für Normalsterbliche unbekannte Lebenswelten. Nur eine Frage stellt sich: Was ist absonderlicher – die Gedankengänge primitiver Hominiden oder die neuzeitlicher Anthropologen?

Funksignale übers Meer...

Ein Lesegenuss ist auch der Wissenschaftskrimi Marconis magische Maschine. Auch hier sind zwei eigentlich eigenständige Geschichten zu einem begeisternden Ganzen verwoben. Geschildert werden einerseits die jahrzehntelangen Bemühungen von Guglielmo Marconi, die drahtlose Kommunikation anwendungsreif zu machen – und zum anderen die dramatische Lebensgeschichte des Frauenmörders Hawley Harvey Crippen, der als erster Verbrecher der Menschheitsgeschichte (und noch während seiner Flucht über den Atlantik) mit Hilfe von Marconis „magischer Maschine“ verhaftet werden konnte.

Man sollte meinen, dass die scheinbar banale Erfindung des Funks nur Ingenieure zu interessieren vermöge, doch der amerikanische Reporter Erik Larson schuf daraus eine fesselnde Geschichte vor dem Hintergrund des frühen 20. Jahrhunderts: Der 1909 mit dem Nobelpreis geehrte Marconi experimentierte ein Jahrzehnt lang gegen alle gesellschaftlichen und finanziellen Widerstände, um die Reichweite der unsichtbaren (und physikalisch damals noch unverstandenen) Wellen bis zur Praxistauglichkeit zu vergrößern.

Die puren Dimensionen der damals verwendeten Technik lassen den Leser staunen. Die ersten Funksender spuckten unkontrollierbare, ohrenbetäubende Blitze aus; die vorsintflutlichen Empfangsstationen wiederum waren bizarr verzweigte und hunderte von Metern durchmessende Riesenkonstruktionen aus himmelhoch aufragenden Antennenmasten. Ihr Bau verschlang Unsummen – und brachte Marconi mehrmals an den Rand des Ruins.

Asozialer Unsympath

Der Autodidakt aus Italien wird als asozialer Unsympath portraitiert: eigensinnig, technokratisch, ruhm- und geldversessen, berechnend, jedoch ohne Menschenkenntnis und sich jeder Zeit rücksichtslos über die Interessen selbst enger Weggefährten hinwegsetzend. Es ist die hohe Kunst des Autors, dass man sich als Leser trotzdem unmerklich auf die Seite Marconis schlägt, ihm die Daumen drückt und mitfiebert, wenn der eigensinnige Selfmade-Unternehmer mal wieder in Schwierigkeiten steckt.

Gegenüber dem rücksichtslosen Funkpionier Marconi erscheint der mutmaßliche Frauenmörder Crippen da beinahe sympathisch. Larson schildert den kurzgewachsenen, kurzsichtigen Allgemeinarzt mit Hang zu Homöopathie und Giftmischerei als unglücklichen, duldsamen Ehemann, der ein 18-jähriges Ehe-Martyrium mit einer grausigen Untat beendet. Larson schreckt bei deren Beschreibung auch vor unappetitlichen Details nicht zurück – etwa wenn es um den Zustand der im Keller vergrabenen Leiche (ist es wirklich Cora Crippen?) geht. Die darauf folgende Flucht und Gefangennahme des vermeintlichen Übeltäters schließt den Zirkel zu Marconi: Crippen will sich per Schiff in die USA absetzen, verkleidet seine junge Geliebte als Mann – und scheitert wenige Meter vor dem Ziel: Der per Funk(!)telegramm benachrichtigte Kapitän identifiziert die beiden. Noch vor Ankunft im Hafen wird das saubere Pärchen verhaftet.

Marconis magische Maschine ist ein hervorragend recherchiertes, atemberaubendes, lebendiges Buch.

Werden Sie Clubmitglied!

Auch wenn biologische Themen in dieser Edition Wissenschafts-Romane unterrepräsentiert sind: Bestellen Sie sich diese famose Bücherkiste! Die packenden Romane von Sobel, Knauss und Larson behalten Sie selbst, die stabile Pappverpackung malen Sie bunt an und nutzen sie anschließend als preiswertes Buchregal – und den Rest des Inhalts verschenken Sie an ausgesuchte Zielpersonen, denen Sie imponieren wollen. Auf diese Weise geben Sie sich dezent, aber wirkungsvoll als Mitglied des mondänen Zeit-Lesezirkels zu erkennen und können billig Ihre gesellschaftliche Klasse demonstrieren, ohne unnötig viel Geld in eine „Wanddekoration Riesenhirsch“ investieren zu müssen.

Die Bände im einzelnen:

  • Dava Sobel: Längengrad (160 Seiten);
  • Thomas Pynchon: Mason & Dixon (880 Seiten);
  • Alissa Walser: Am Anfang war die Nacht Musik (208 Seiten);
  • Ralf Bönt: Die Entdeckung des Lichts (320 Seiten);
  • John Griesemer: Rausch (704 Seiten);
  • Christoph Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis (256 Seiten);
  • Martin Kluger: Die Gehilfin (320 Seiten);
  • Friedrich Christian Delius: Die Frau, für die ich den Computer erfand (192 Seiten);
  • T.C. Boyle: Dr. Sex (464 Seiten);
  • Erik Larson: Marconis magische Maschine (432 Seiten);
  • Sibylle Knauss: Eden (320 Seiten);
  • John L. Casti: Das Cambridge Quintett (176 Seiten).



Letzte Änderungen: 05.09.2012