Editorial

Buchbesprechung

Winfried Köppelle




Dava Sobel: Längengrad

Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
Verlag: Zeit Verlag
Sprache: Deutsch

Das Buch "Längengrad" ist auch einzeln im Buchhandel oder über amazon erhältlich.


Das Drama des Uhrmachers

Das begeisterndste Buch der Zeit-Wissenschafts-Edition ist zugleich deren schmälstes: Im Roman Längengrad erzählt die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Dava Sobel auf 160 Seiten das ungewöhnliche Leben des Uhrmachers John Harrison – eines „einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste“.

Dieses Problem war die Unfähigkeit, die geografischen Längengrade und damit die Position eines Schiffes exakt zu bestimmen. Heute erledigen dies globale Navigationssatellitensysteme wie GPS und Galileo mit einer Ortungsgenauigkeit von wenigen Metern. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein jedoch segelten die Seefahrer blind durch die Untiefen der Ozeane. Sie irrlichterten oft weitab des beabsichtigten Kurses in fremden Gestaden umher, immer in Gefahr, das nächste Riff zu rammen oder auf offener See zu verhungern.


Dava Sobel

Dava Sobel Foto: Berlin-Verlag

Seefahrt war jahrhundertelang ein pures Vabanquespiel: Auf den ersten Seiten ihres Büchleins schildert Sobel eindrucksvoll, wie es dem britischen Admiralsgenie Sir Clowdisley Shovell einst gelang, binnen weniger Minuten fast seine komplette Flotte samt 1.700 Matrosen auf den Meeresgrund zu schicken. Schuld war weniger der dichte Herbstnebel des 22. Oktobers 1707, sondern vielmehr eine mit dünkelhafter Arroganz gepaarte, haarsträubende Fehlentscheidung des Admirals – und eben das „Längenproblem“: Shovells Navigatoren hatte sich meilenweit versteuert und waren in ihrer Ignoranz nicht bereit gewesen, die korrekten Ratschläge eines einfachen Matrosen anzunehmen (diesen unverschämten Kerl ließ der stolze Admiral umgehend wegen Meuterei aufknüpfen; wenig später rammten seine Schiffe den felsigen Grund).

Die Suche nach der richtigen Position gebar Ende des 17. Jahrhunderts auch andere seltsame Blüten. So präsentierte ein gewisser Sir Kenelm Digby sein über tausende Kilometer hinweg fernwirkendes Heilpulver. Dieses könne man auch dazu verwenden, versicherte er, zu definierten Zeiten verletzte Hunde an Bord eines Schiffes aufjaulen zu lassen – und so den aktuellen Längengrad zu berechnen (falls Sie verständnislos den Kopf schütteln: Digbys Zeitgenossen taten dasselbe). Andere einfallsreiche Zeitgenossen wollten in den Weltmeeren eine Armada von Signalschiffen verankern, die als chronometrischer Taktgeber regelmäßig Leuchtkugelsalven in den Himmel schießen sollten.

Als die Unmöglichkeit der exakten Navigation, verbunden mit den sich daraus ergebenden dramatischen Verlusten an Schiffen und Menschenleben, die europäischen Regierungen zunehmend verzweifeln ließ, handelte das englische Parlament. Es lobte 1714 eine enorme Belohnung aus: Wer eine praktikable Lösung des Längenproblems fand, der sollte – je nach Genauigkeit der vorgeschlagenen Methode – eine Belohnung von bis zu 20.000 Pfund erhalten (in heutiger Kaufkraft ein zweistelliger Millionenbetrag). Das über die Preisvergabe entscheidende Gremium, die honorable „Längenkommission“, war mit den bedeutendsten Astronomen, Mathematikern und Naturwissenschaftlern Englands besetzt. Diese favorisierten aufwändige astronomische Beobachtungen als Lösung.

Der in Fachkreisen unbekannte Schreiner Harrison wählte einen gänzlich anderen Weg: den der exakten Zeitmessung. Ab 1728 nahm sich der autodidaktische Quereinsteiger der Sache an und brüskierte prompt die wissenschaftliche Schickeria.

Wie bestimmt man per Zeitmessung den Längengrad? Man misst zu einer bestimmten Zeit (etwa zum Sonnenhöchststand um 12 Uhr mittags) den Unterschied zwischen der Referenz-Zeit am Nullmeridian (in London-Greenwich) und der Ortszeit an Bord. Aus dieser Zeitdifferenz lässt sich die exakte Längenposition berechnen (je 15 Grad Länge entsprechen 60 Minuten). Ein Beispiel: An Bord steht die Sonne senkrecht (es ist also 12 Uhr); die mitgeführte „Greenwich-Uhr“ zeigt hingegen 14 Uhr. Somit befindet sich das Schiff 30 Grad westlich des Nullmeridians.

Allerdings musste der umtriebige Praktiker Harrison zwei als unüberwindbar geltende Hürden überwinden:

  • Problem eins: Die an Bord mitgeführte Uhr muss extrem genau gehen – selbst bei Wellengang, Stürmen und raschen klimatischen Schwankungen.
  • Problem zwei: Die höchste Instanz im naturwissenschaftlichen England, Isaac Newton höchstselbst, bestritt, dass es technisch möglich sei, derart genau gehende Zeitmesser zu bauen.
Harrison-Uhrwerk

Experimentelles Uhrwerk einer Präzisionspendeluhr mit schmierungsfreien Holzzahnrädern, gebaut von John Harrison im Jahr 1727.

Newton sollte sich irren. Denn Harrison entwarf im Laufe der Jahre eine Reihe mechanischer Uhren, bei denen unter anderem schmierungsfreie Holzzahnräder und Temperatur-unempfindliche Pendel aus Bimetall zum Einsatz kamen und die somit präziser waren als alles bis dahin Bekannte. Sein finales Meisterstück aus dem Jahr 1759, die nur 1,45 Kilogramm leichte „H4“ (siehe Bild rechts), erreichte dank konstruktiver Kniffe eine Gangungenauigkeit von weniger als fünf Sekunden in 81 Tagen. Damit war sie den Chronometern ihrer Zeit haushoch überlegen und somit als Navigationshilfe bestens geeignet. Der damals neuartige Antriebsmechanismus der H4 wird bis heute in mechanischen Uhren verwendet. Das Original ist heute im Londoner National Maritime Museum zu bewundern (eine Skurrilität am Rande: da diese Uhr schmierungsbedürftige und damit verschleißanfällige Mechaniken aus Metall besitzt, ist es dem Museumspersonal strengstens verboten, sie aufzuziehen).

Harrison-H4-Chronometer

Harrisons berühmter H4-Chronometer aus dem Jahr 1759.

Mit der H4 war es erstmals möglich, dank genauer Bestimmung der Ost-West-Position eines Schiffes exakt auf den Weltmeeren zu navigieren. Der zunächst skeptische Weltumsegler James Cook testete Harrisons neuartiges Zeitmessgerät auf seiner zweiten Weltreise – und war bei seiner Rückkehr 1775 schwer begeistert über seinen „nie versagenden Führer“. Und die H.M.S. Beagle, auf der Charles Darwin 1831 zu seiner berühmten Reise aufbrach und deren Aufgabe unter anderem die Vermessung der geografischen Länge unbekannter Territorien war, hatte gar 22 Uhren an Bord, die alle gegeneinander abgeglichen wurden.

Doch was wäre eine gute Geschichte ohne menschliche Tragödien? John Harrison, der stolze und diplomatisch nicht besonders beschlagene Erfinder aus Wakefield in Nordengland, musste zeitlebens um seine verdiente Belohnung kämpfen. Die gescheiten Mitglieder der Längengrad-Kommission fanden mal diesen und mal jenen Grund, warum dieser seltsame Kauz das Preisgeld nicht verdient hätte. Selbst der König soll schließlich zugunsten Harrison plädiert haben.

Die ultimative Lobpreisung durch Cook erhielt der inzwischen 82-jährige jedoch erst acht Monate vor seinem Tod, nach jahrzehntelangem, frustrierendem Kampf um Anerkennung.

Warum der wissenschaftliche Laie zeitlebens ausgebremst und vertröstet wurde und mit welch hinterhältigen Intrigen seine mächtigen Gegenspieler ihm das Leben schwer machten – all dies ist eine wirklich haarsträubende und dank Sobels schriftstellerischer Klasse auch hochfaszinierende Geschichte. Der im englischsprachigen Original erstmals 2005 erschienene Roman wurde seinerzeit zu einem Überraschungsbestseller für die Wissenschaftsjournalistin der New York Times. Mit Recht.




Letzte Änderungen: 05.09.2012