Editorial

Zyklusvariationen

Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(12.04.2022) Irgendwann kommt im Biochemie- oder Medizinstudium der Zeitpunkt, an dem man Stoffwechselwege lernen muss. Also holt man ein einschlägiges Lehrbuch heraus, und da leuchten sie einem in großzügigen Hochglanz-Abbildungen förmlich entgegen. Altehrwürdig, fast wie in Stein gemeißelt – so muss es einem vorkommen. Schließlich wurden die wichtigsten Zyklen und Pfade der zellulären Biochemie bereits vor 60 bis 80 Jahren weitgehend entschlüsselt.

„Fall geklärt“, könnte man also meinen. Da gibt‘s wohl nicht mehr viel zu forschen. Wer will schon Hirnschmalz und Experimentiergeschick ausgerechnet dort vergeuden, wo schon lange alles „Lehrbuch-klar“ ist.

Zum Glück gibt es in der Forscherzunft aber immer wieder Mutige, die sich die „ollen Kamellen“ doch noch mal auf Labortisch und Rechner holen – und sich diese mit neuen Methoden umso genauer anschauen. Und siehe da, hin und wieder werden sie tatsächlich mit brandneuen Erkenntnissen belohnt.

Nehmen wir etwa den allseits bekannten Citratzyklus. Bereits 1937 entschlüsselte der in Deutschland geborene Biochemiker Hans Krebs ihn als zentrale Drehscheibe des zellulären Stoffwechsels: Aus dem Abbau von Fetten, Kohlenhydraten und Proteinen fließt Acetyl-Coenzym A in den Citratzyklus ein und wird im ersten Schritt durch die Citratsynthase mit Oxalacetat zu Citrat verknüpft. In sieben weiteren enzymatischen Schritten wird das Citrat wieder zu Oxalacetat zurück „verbrannt“ – womit ein erneuter Durchlauf starten kann. Bis dahin hat der Zyklus unter Einsatz von Wasser, oxidierten Elektronencarriern und GDP – neben H+ und CO2 – Reduktionsäquivalente in Form von NADH und FADH2 sowie GTP produziert, die nachfolgend in der Atmungskette zur Synthese mehrerer „Energiemoleküle“ ATP genutzt werden können.

Die Details und Mengenangaben dieses kanonischen Citratzyklus stehen – wie gesagt – schon lange in den einschlägigen Lehrbüchern. Ebenso, dass der Citratzyklus nicht nur der finalen Energiegewinnung durch Abbau dient, sondern dass auch Zwischenprodukte für den Aufbau anderer Moleküle daraus abgezweigt werden können – beispielsweise für Aminosäuren oder Nukleotide.

So weit, so klar! Dennoch scheint „der Zyklus“ immer noch für Überraschungen gut zu sein. Erst 2018 beobachteten etwa zwei Forscherteams unabhängig voneinander, dass gewisse thermophile Bakterien den Citratzyklus mit den tupfengleichen Enzymen rückwärts laufen lassen können. Demnach produziert die Citratsynthase kein Citrat, sondern spaltet es, um über den „Rückwärts-Zyklus“ CO2 für die Zellen zu fixieren (Science 359: 559-63 und 563-67).

Ganz anders, was ein US-Team gerade in Muskel-Stammzellen entdeckte: einen alternativen Citratzyklus, für den mitochon­drial gebildetes Citrat in das Cytoplasma abgezweigt wird, um dort von einer ATP-abhängigen Citratlyase wieder in Oxalacetat und Acetyl-Coenzym A zerlegt zu werden (Nature; doi: 10.1038/s41586-022-04475-w).

Offenbar benötigen gerade die wachsenden Muskel-Stammzellen besonders viel Acetyl-Coenzym A, etwa für Protein­acetylierung und Lipid-Biosynthese. Jedenfalls läuft in ihnen ausschließlich dieser nicht-kanonische Citratzyklus. Der Clou jedoch ist: Differenzieren diese sich weiter zu Muskelfaser-Vorläuferzellen, wechseln sie komplett in den altbekannten kanonischen Citratzyklus – und schalten damit gleichsam ihre Priorität von Wachstum auf Energieproduktion. Blockierten die US-Forscher gezielt diesen Citratzyklus-Switch, blieb gleich der gesamte Differenzierungsprozess aus – die Stammzellen kamen schlichtweg nicht mehr „raus aus ihrer Haut“.

Schönes Beispiel dafür, wie die Variation von Stoffwechselprozessen notwendige Voraussetzung für die Weiterdifferenzierung von Zellen ist. Würde als künftiger Zusatz im Lehrbuch-Kapitel „Citratzyklus“ sicher nicht stören.

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