Editorial

Nur so und nicht anders!

Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(10.03.2022) Was war eigentlich der große „Knaller“ in Darwins Evolutionstheorie?

Sicher, sie enthielt gleich mehrere. Aber die entscheidende „Munition“ für sämtliche Knalleffekte war wohl die folgende Grunderkenntnis: Jeder Organismus existiert nicht auf ewig so, wie er bereits zu Anfang auf Erden wandelte, sondern muss sich vielmehr kontinuierlich umgestalten, um den sich ständig wandelnden Herausforderungen seiner Umwelt erfolgreich begegnen zu können. Diese Erkenntnis machte schließlich eines umgehend klar: Jedes System, jede Struktur und jeder Mechanismus, der in den Lebewesen realisiert ist, repräsentiert zwei Dinge zugleich – ein biologisches Problem und einen Weg, dieses Problem zu lösen.

Erst damit schenkte Darwin der Biologie die Basis dafür, Warum-Fragen stellen zu können. Warum haben Giraffen lange Hälse? Warum haben Parasiten vergleichsweise kleine Genome? Warum gibt es sexuelle Fortpflanzung? ...

Im Umkehrschluss bekamen damit plötzlich auch Warum-nicht?-Fragen einen Sinn. Sicher, in den meisten Fällen können sie nur theoretisch beantwortet werden – und gerade dabei besteht oft die Gefahr, dass man allzu schnell in reine und nur wenig produktive Gedankenspielereien abbiegt. Dass solche Fragen aber ihre ganz eigene prinzipielle Berechtigung haben, dürfte klar sein.

Nehmen wir etwa die Frage: Warum machen Tiere keine Photosynthese? Leicht vorstellbar, welche enormen Vorteile sie davon haben würden. Dazu kommt, dass die Photosynthese schon sehr früh in Bakterien etabliert wurde – weshalb die „passenden“ molekularen Bausteine seitdem in der Evolutionsgeschichte verfügbar gewesen sein dürften. Was es wiederum sehr plausibel macht, dass wohl auch in den urzeitlichen Linien der Animalia der eine oder andere „Photosynthese-Versuch“ stattfand.

Ganz offensichtlich hat aber keiner davon dauerhaft geklappt. Warum nicht? Was wog letztlich schwerer als die Vorteile, den Großteil der Lebensenergie nur aus Licht, Luft und Wasser zu schöpfen?

Warum-nicht?-Fragen wie diese sind somit immer Fragen nach den Grenzen der Evolution. Oder besser nach den Zwängen, denen sie sich unterordnen muss – und die schlussendlich diktieren, dass gewisse Dinge nicht zusammen funktionieren können. Oder dass sie überhaupt nur so und nicht anders funktionieren können.

Solche Nur-so-und-nicht-anders-Zwänge werden natürlich zunächst durch die Gesetze der Naturwissenschaften vorgegeben. Nehmen wir das aktive Fliegen. Ganz unterschiedliche Lebewesen gingen diesen Weg: Insekten, Vögel, Fledermäuse, Flugsaurier,... Aber alle entwickelten dazu Flügel. Wer aktiv fliegen will, unterliegt offenbar dem Zwang, Flügel entwickeln zu müssen. Anders scheinen Tiere die physikalischen Herausforderungen des aktiven Fliegens nicht bewältigen zu können.

Aber auch die Genetik sorgt für Nur-so-und-nicht-anders-Zwänge. Vor allem zur Realisierung komplexer Merkmale bleibt trotz der reichhaltigen Fülle genetischen Materials offenbar häufig nur ein „Königsweg“ für alle.

So rekrutierten etwa die Urahnen von Delphinen und Fledermäusen nahezu dieselben zweihundert Gene – und bauten sie durch sehr ähnliche Mutationsmuster unabhängig voneinander für die neue Wahrnehmungsqualität der Echolokation um. Analoges kam gerade frisch von der Waldeidechse (Nat. Ecol. Evol. 5: 1546-56): Diese gebiert ihre Nachkommen im Gegensatz zu vielen anderen Echsen lebend, wofür ihre Vorfahren nahezu die gleichen Gene umgebaut und aktiviert haben, die auch in Säugetieren eine reibungslose Schwangerschaft samt Geburtsvorgang ermöglichen.

Offenbar scheint die „Real-World“-Genetik trotz aller Mutations- und Kombinationsmöglichkeiten häufig nur den einen genetische Weg zum komplexen Merkmal zu bieten. Und keinen anderen.

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