Editorial

Sehen und Fragen

Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(07.02.2022) Am Anfang jeglicher Wissenschaft steht die Beobachtung. Woher sollen auch sonst die offenen Fragen kommen, die man nachfolgend durch Studien und Daten beantworten könnte?

Erstaunlich daher, dass vor gar nicht langer Zeit gerade in den Biowissenschaften die reine Beschreibung von Beobachtungen vielfach zu einer Art Forschung zweiter Klasse degradiert wurde. So trunken war man von den Erfolgen der Biochemie und Molekularbiologie, dass nur noch die finale Entschlüsselung von Mechanismen zählte. Mit der Folge, dass Beobachtungsstudien lange Zeit mit dem abschätzigen Etikett „just purely descriptive“ versehen wurden – und allenfalls den Weg in nachrangige Journals fanden.

Das hat sich inzwischen wieder geändert. Der Grund: Durch die rasanten methodischen Fortschritte der letzten zwei bis drei Jahrzehnte konnten völlig neue Beobachtungsebenen erschlossen werden, die einem bis dahin verborgen waren. Effizientere Sequenziermethoden und ausgefuchste Algorithmen sorgten beispielsweise dafür, dass die Sequenzen kompletter Genome überhaupt „beobachtbar“ wurden. Als beides noch besser wurde, konnte man damit den Großteil aller Genome – also das Metagenom – einer gesamten Probe quasi in einem Rutsch beschreiben. Und heute ist es aufgrund der Kombination gleich mehrerer High-End-Hochleistungstechniken auch kein Hexenwerk mehr, das komplette Expressionsprofil jeder einzelnen Zelle eines ganzen Gewebes komplett aufzuzeichnen.

Durch den High-Tech-Schub waren derartige „descriptive studies“ also plötzlich wieder angesagt. Eben weil sie in viel höherem Umfang und Tempo als zuvor Unmengen an Beschreibungen aus ganz neuen Beobachtungsebenen lieferten. Und natürlich wurde sie auch nicht mehr als „just purely descriptive“ abgekanzelt, sondern gar vielmehr zur „Hypothesen-generierenden Forschung“ geadelt – und damit klar vom Hypothesen-basierten Ansatz der eher mechanistisch ausgerichteten Forschung abgegrenzt.

Mit dieser Namensgebung wurde allerdings auch offensichtlich, dass sich prinzipiell gar nicht viel geändert hatte. Denn auch wenn die High-Tech-Daten dieser „Hypothesen-generierenden Forschung“ hin und wieder schon allein durch ihre pure Masse erkenntnisträchtige Muster offenbaren, so dienen die auf diese Weise neu beschriebenen Beobachtungen doch weiterhin vor allem dem gleichen alten Zweck: Sie ermöglichen, neue Fragen zu stellen, die man nachfolgend mit gezielten Studien zu beantworten versucht – ob mit oder ohne frisch generierter Hypothese. So wie‘s immer schon war – siehe oben.

Ein erfreulicher Nebeneffekt dieser Entwicklung war jedoch, dass offenbar im selben Atemzug auch eher klassischen Beobachtungsstudien ohne viel methodischen Firlefanz wieder ein höherer Stellenwert eingeräumt wurde.

So publizierte beispielsweise gerade ein englisches Team, dass Fasane ihre Köpfe direkt vor ihren Hackordnungskämpfen durch Veränderung des Blutflusses sehr schnell herunterkühlen, um sie direkt nach dem Kampf ebenso rasant zu überhitzen (Phil. Trans. R. Soc. B 377: 20200442). Erst danach kommen sie wieder langsam auf Normaltemperatur zurück. Einziges High-Tech-Hilfsmittel: Eine Infrarot-Wärmebildkamera.

Komplett ohne High-End-Technologie kamen dagegen Forscher des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Seewiesen aus: Anhand von Vogelbildern bestimmten sie die Helligkeit des Gefieders von Zugvögeln und verglichen die Daten mit dem Zugverhalten der jeweiligen Art. Ergebnis: Je weiter die Vögel fliegen, desto heller ist im Schnitt das Gefieder. (Current Biol. 31(23): R1511-2).

Beide Gruppen stellen jetzt ganz grundsätzliche Fragen zum Überhitzungsschutz bei Vögeln. Wie das eben schon immer war nach der Beschreibung neuer Beobachtungen.

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