Editorial

Plötzlich ein Rätsel

Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(12.10.2021) Was macht man, wenn man einen Zellprozess verstehen will? Man holt alle Prozess-relevanten Komponenten aus der Zelle heraus und studiert ihn ungestört vom ganzen Rest im Reagenzglas. Reduktionismus heißt das auf diese Weise salopp vorgestellte Konzept, das seine Blüte vor allem während der ersten Jahrzehnte von Biochemie und Molekularbiologie erlebte. Heerscharen ehemaliger „Proteinputzer“ und „Genklonierer“ werden das bestätigen.

Der Erfolg des reduktionistischen Ansatzes war, wie wir heute wissen, enorm. Jede Menge zentrale Mechanismen des Zellgeschehens wurden so unter optimierten Bedingungen im Reagenzglas – in vitro – entschlüsselt. Doch auch wenn all diese Resultate glasklar und plausibel herausgekommen waren, säten spätere Erkenntnisse doch ein ums andere Mal gewisse Zweifel, ob die betreffenden Reagenzglas-Prozesse im großen Wirrwarr der Zellen tatsächlich genauso ablaufen. Natürlich war es in der Regel nicht falsch, was die Forscher aus ihren Reagenzgläsern gelernt hatten. Aber es kam doch oft genug vor, dass solche Unsicherheiten und Rätsel nur mit weiteren Zusatzbefunden ausgeräumt werden konnten. Was natürlich gar nicht schlecht ist, denn gerade auf diese Weise lernt man ja dazu.

Ein nettes Beispiel dreht sich um die Transkription. Diese lief irgendwann in der ungestörten und optimierten In-vitro-Umgebung derart glatt ab, dass man auch die Geschwindigkeit der RNA-Synthese messen konnte: Übereinstimmend kam man auf 30 bis 60 Nukleotide pro Sekunde. Doch nachdem man immer mehr Gene sequenziert hatte, stellte man plötzlich fest, dass es mit diesem Tempo bei vielen eukaryotischen Genen mit ihrer weitläufigen Exon-Intron-Struktur ganz schön lange dauert, bis die RNA-Polymerase das gesamte Primärtranskript fertiggestellt hat. Beunruhigend wurde das Ganze jedoch erst, als man diesen Befund mit der hohen Kern- und Zellteilungsgeschwindigkeit in frühen Drosophila-Embryonen in Beziehung setzte. Demnach teilen sich die Kerne und Zellen nach Befruchtung der Eizelle in den ersten Runden viel zu schnell, als dass die langen Fliegen-Gene wenigstens einmal fertig abgelesen werden können.

Stimmte die in vitro gemessene Geschwindigkeit vielleicht doch nicht? Ist die RNA-Polymerase in vivo womöglich viel schneller? Nochmal genauer nachschauen war also angesagt – und das Ende vom Lied war: Die Evolution hatte tatsächlich dafür gesorgt, dass gerade diejenigen Gene, die Drosophila innerhalb der ersten Zellteilungen exprimieren muss, ungewöhnlich kurz sind – sodass die knappe Teilungszeit für deren Transkription ausreicht. Lange Transkripte wurden in dieser Phase zwar auch gestartet, wegen des Zeitdrucks aber vorzeitig abgebrochen und „abgetrieben“ (Dev. Cell 47(6): 773-84).

Doch nicht nur Fragezeichen und Zweifel können nachfolgende Erkenntnisse dem Forscher bescheren. Bisweilen realisiert man dabei auch, mit wie viel Glück die Pionier-Experimente unter Reagenzglas-Bedingungen überhaupt funktionierten. So geschehen beim berühmten Poly-U-Experiment von Heinrich Matthaei und Marshall Nirenberg, mit dem sie das Triplett-Prinzip des genetischen Codes entschlüsselten. Bekanntlich gaben die beiden nur blitzeblanke Poly-U-RNA-Stränge in ein zell- und mRNA-freies E.-coli-Extrakt – und ernteten Code-getreu translatierte Poly-Phenylalanin-Ketten. Nachdem die Prozesse der Translations-Initiation jedoch weiter aufgeklärt waren, stand plötzlich ein Rätsel im Raum: Wie konnten Matthaei und Nirenberg in ihrem Experiment ohne jegliches AUG-Startcodon überhaupt Translation erhalten? Weil das Ribosom mit deutlich geringerer Affinität auch andere Codons zum Starten nutzen kann. Und da ausschließlich und massenweise Poly-U im Mix war, hatte es letztlich geklappt.

Schlichtweg Glück gehabt also. Und „posthum“ noch was über Affinität gelernt.

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