Editorial

Lebend(ig)e Fossilien

Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(09.06.2021) Survival of the Fittest, Hopeful Monsters, Frozen Accidents,... Gerade die Evolutionsbiologie hat eine Reihe kraftvoll-blumiger Begriffe hervorgebracht, die – nebenbei bemerkt – meist in deutscher Übersetzung deutlich verlieren. Das Dilemma mit solchen Begriffen ist jedoch, dass sie sich zwar besonders gut einprägen, zugunsten der „Blumigkeit“ aber oftmals an Trennschärfe verlieren. Die Folge ist, dass man immer wieder die ein oder andere falsche Bedeutung mit hineinlegt. Und dieses „Missverständnis“ wird man oftmals umso schwerer wieder los.

Nehmen wir beispielsweise die Living Fossils, die auf Deutsch als „lebende Fossilien“ immerhin auch ganz passabel klingen. Charles Darwin selbst führte den Begriff in On the Origin of Species ein. Wörtlich schrieb er damals über „äußerst abnormale Formen“ wie das Schnabeltier und den Lungenfisch:

„These anomalous forms may almost be called living fossils; they have endured to the present day, from having inhabited a confined area, and from having thus been exposed to less severe competition.“

„Populär“ wurde der Begriff jedoch erst, als man über achtzig Jahre später den ersten Quastenflosser (Latimeria chalumnae) vor Südafrika aus dem Meer zog. Da dessen Morphologie bis dahin nur aus weit vordatierten Fossilfunden bekannt war und er daher als lange ausgestorben galt, erinnerte man sich wieder an Darwins „lebendes Fossil“ – und fand den Begriff hier offenbar noch passender als für dessen eigene Beispiele. Seitdem hatte das „lebende Fossil“ zweierlei Bedeutungen: Es bezeichnet eine Spezies, die im Laufe der Evolution offenbar nur wenige Änderungen erfahren hat – und die daher heutzutage keine nahen Verwandten mehr hat. Und logischerweise wurde der Quastenflosser zum Paradebeispiel.

Doch jetzt kommt das Missverständnis: Da sich der Quastenflosser und andere „lebende Fossilien“ hinsichtlich ihrer Morphologie evolutionsgeschichtlich kaum weiterentwickelt haben, ging man davon aus, dass sie über die Jahrmillionen auch genetisch quasi nahezu stillstanden. Oder anders gesagt: dass auch die Rate ihrer molekularen Evolution über all die Zeit deutlich heruntergedrosselt war. Damit jedoch würden sie gegen jegliche Prinzipien der Evolutionsgenetik verstoßen, nach denen sich Genome kontinuierlich als Folge stetiger Mutationen und genetischen Drifts verändern – und erst die Selektion darüber entscheidet, welche der jeweils hervorgebrachten Varianten aus der Population eliminiert oder in ihr fixiert werden.

Lange war tatsächlich die vorherrschende Meinung, dass der Quastenflosser über derart lange Zeit praktisch keine Varianten hervorgebracht hat, weil nur sehr wenig Mutationen in seinem Genom einschlugen. Dabei gab es von Anfang an eine theoretische Alternative für dessen geringe genetische Diversität, die da lautet: Es tauchen in der Tat „normal“ viele Varianten auf, nur werden sie systematisch und sofort durch eine sehr kraftvolle Selektion eliminiert. Und dies war sogar durchaus plausibel angesichts der geringen Populationsgröße der lebend gebärenden Fische, deren Nachkommen ihren über Jahrmillionen unveränderten Lebensraum niemals verließen. Entsprechend lange waren sie schon optimal daran angepasst, Varianten hatten da keine Chance

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Erst seit etwa zehn Jahren setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass die Evolution des Quastenflossers tatsächlich so verlief. Sein Genom steht keineswegs still, sondern unterliegt einer ebenso schnellen molekularen Evolution wie bei anderen Fischen auch (Bioessays 35:332-8). Mehr noch: Erst vor rund 10 Millionen Jahren erwarben seine Vorfahren 62 neue Transposon-abgeleitete Gene – und zwar durch mehrfachen horizontalen Gentransfer (Mol. Biol. Evol. 38(5): 2070-5). Eine durchaus „lebendige“ Genomevolution also für einen Organismus, dem der Begriff „lebendes Fossil“ eigentlich jegliche evolutionäre Dynamik absprach.

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Letzte Änderungen: 09.06.2021