Ganz schön bizarr

Ralf Neumann


Editorial

Schöne Biologie

(06.09.2022) Ein gerne bemühter Allgemeinplatz in der Wissenschaft lautet: Jedes Ergebnis öffnet die Tür zu neuen Fragen. Doch nicht hinter jeder Frage, die sich durch brandaktuelle Ergebnisse den beteiligten Forschern unweigerlich aufdrängt, steckt echte Substanz. Zumal darunter hin und wieder auch Fragen sind, die einem zunächst ziemlich bizarr vorkommen müssen.

Nur zu gut kann man sich etwa vorstellen, wie ein internationales Biologenteam – unter ihnen Sven Künzel vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön sowie Miguel Vences von der Technischen Universität Braunschweig – kürzlich kollektiv die Augen aufriss, als gewisse Ergebnisse frisch auf ihrem Tisch lagen. Die Beteiligten hatten die Verbreitung eines häufigen Säuger-Retrotransposons namens Bovine-B (Bov-B) unter Madagaskars Fröschen geprüft – und tatsächlich fanden sie Bov-B-Sequenzen zuhauf im Erbgut nahezu aller eingesammelten Froscharten. Bov-B war zuerst in Rindern aufgepürt worden, wo deren vervielfältigte Kopien teilweise mehr als 18 Prozent der gesamten Genomsequenz ausmachen. In manchen Exemplaren der Madagaskar-Frösche nahmen sie immerhin 0,5 Prozent des Genoms in Anspruch.

Editorial

1998 hatten zwei slowenische Forscher den überraschenden Befund publiziert, dass die Vorfahren der Rinder sich die Bov-B-Retrotransposonen vor Jahrmillionen offenbar via horizontalem Gentransfer aus Schlangen eingefangen hatten (PNAS 95(18): 10704-09). Damit waren Schlangen natürlich auch als Bov-B-Lieferanten für die Madagaskar-Frösche unter Verdacht. Und nach vergleichender Analyse etlicher Reptilien- und Amphibienarten stand schließlich fest: Die Bov-B-Sequenzen der madegassischen Frösche sind am engsten mit denen von madegassischen Schlangen verwandt (Mol. Biol. Evol. 39(4): msac052). Und mehr noch: Die Frosch-Ahnen erwarben die Bov-B-Elemente tatsächlich durch horizontalen Gentransfer aus den Vorfahren der Schlangen – und zwar in mehreren Sprüngen während des Zeitraums von vor 85 bis vor 1,3 Millionen Jahren.

Jetzt braucht man nur noch auf das Verhalten beziehungsweise das Verhältnis der beiden Tiergattungen schauen, um endlich bei der – oben versprochenen – bizarren Frage anzukommen: Wie können getötete und anschließend verdaute Beutetiere, also Frösche, überhaupt Sequenzen aus dem Erbgut ihrer Räuber, also von Schlangen, in ihr eigenes Genom aufnehmen und dort stabil etablieren? Wie gesagt, man kann das unmittelbare Erstaunen der Autoren, als diese Frage sie plötzlich aus ihren Ergebnissen ansprang, fast noch nachempfinden: Gleich im zweiten Satz ihres Abstracts schreiben sie selbst von einer „bizarren Transferrichtung“ für die Retrotransposonen.

Dabei liefern sie die Lösung noch im selben Artikel. Denn zusätzlich spürten die Forscher noch eine Vielzahl von Bov-B-Sequenzen bei 42 Parasitenarten auf, die Frösche und teilweise auch Schlangen befallen – darunter etwa der Nematode Cosmocerca simile oder Laufmilben aus der Familie der Trombiculidae. Ein starker Hinweis also, dass Parasiten die tatsächlichen Übertragungsvektoren für den Bov-B-Transfer sein könnten.

Ganz gemäß des obigen Einstiegssatzes öffnet sich damit aber gleich wieder die Tür zu neuen, weniger bizarren Fragen: Hat irgendeiner dieser Parasiten eigene Bov-B-Sequenzen, die dessen Vorfahren vor Urzeiten aus ihren Schlangen-Wirten in die eigene DNA eingebaut hatten, direkt in das Genom der Frosch-Wirte transferiert? Oder hat womöglich ein wenig wählerischer Schmarotzer beim Wechsel von einem Wirt in den nächsten die Bov-B-Sequenzen mit seiner „Mahlzeit“ mitgeschleppt – und so den Bov-B-Sprung von Schlange zum Frosch ermöglicht? Wobei Letzteres gar darauf hinweisen könnte, dass wenig spezifische Parasiten generell als starke Vektoren für horizontalen Gentransfer zwischen ihren Wirten fungieren könnten.

Gute Fragen, sicher. Auch wenn sie lange nicht so bizarr klingen wie die letztlich substanzlose Frage nach dem Transposon-Transfer vom Räuber zur toten Beute.

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