Wer lügt hier?

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Editorial

Schöne Biologie

DNA lügt nicht, heißt es. Allerdings lassen sich DNA-Sequenzen leicht falsch interpretieren. Insbesondere, wenn sie in phylogenetischen Stammbaum-Studien miteinander verglichen werden.

Ein Paradebeispiel dafür amüsierte 1996 die Forscherwelt. Damals verkündete nach dem Vergleich von Mitochondrien-DNA ein schwedisch-italienisches Team in Nature (381: 597-600), dass das Meerschweinchen kein Nagetier sei. Folglich, so die Autoren, müsse alles, was bisher in die monophyletische Ordnung der Nagetiere (Rodentia) gepackt war, unter mindestens zwei verschiedene Ordnungen fallen. Kurz darauf jedoch wiesen andere Kollegen den Autoren Fehler in deren Analyse nach, verglichen noch ein paar mehr Sequenzen miteinander – und stellten am Ende das alte Bild von dem einen gemeinsamen Vorfahren aller Nagetiere, inklusive des Meerschweinchens, wieder her (siehe etwa J. Mamm. Evol. 4(2): 77-86).

Editorial

Das Beispiel zeigt ein Phänomen, das in vielen anderen Fällen ähnlich zu beobachten war: Dass man nämlich jegliche Erkenntnisse aus etablierten morphologischen Vergleichen allzu bereitwillig über Bord kippt, sobald der Vergleich gewisser DNA-Sequenzen die vage Möglichkeit anderer Verwandschaftsverhältnisse andeutet. Lügen Baupläne etwa eher als Genome?

Gerade hat ein weiteres Beispiel für solche Irrungen und Wirrungen wieder neue Blüten getrieben. Es geht um die Rippenquallen (Ctenophora). Lange hat man diese mit den Nesseltieren (Cnidaria) zur Gruppe der Hohltiere (Coelenterata) zusammengefasst – und so haben es wohl zumindest alle Ü50-er unter uns auch einst in ihrer Zoologie-Vorlesung gelernt. Zwar „wackelte“ diese Coelenterata-Hypothese immer wieder mal ein wenig. Im Großen und Ganzen sprach aber doch vor allem die Entwicklungsbiologie deutlich für die Schwestergruppenschaft dieser einfachen, zwei­keimblättrigen und radiärsymmetrischen Tiere.

Bis um die Jahrtausendwende Molekularphylogenetiker sich auch diese Grüppchen vornahmen. Plötzlich tauchten die Rippenquallen mit nahezu jedem neuen Sequenzvergleich an einer anderen Position des phylogenetischen Stammbaums auf – einmal sogar innerhalb der Schwämme (Porifera) (Evol. Dev. 3(3):170-205). Und am Ende trugen sie die Coelen­terata-Hypothese vollends zu Grabe: Die Rippenquallen galten fortan als Schwesterngruppe von 95 Prozent aller heutigen Tiere zusammen – nämlich der Nesseltiere und der Scheibentiere (Placozoa) und der „Zweiseiter“ (Bilateria).

Natürlich floss diese Erkenntnis auch umgehend in die neuen Lehrbücher. In der „Systematischen Zoologie“ von Hynerk Burda et al. heißt es etwa auf Seite 45: „Aktuelle phylogenomische Analysen haben gezeigt, dass die Ctenophora die basalste Linie der Metazoa darstellen und mit den Cnidaria nicht nahe verwandt sind.“

Burda und Co. müssen ihr Buch jetzt wohl wieder umschreiben. Schuld ist eine neue Studie, in der die Autoren vor allem den Geninhalt der Genome verglichen – und prüften, wie viele homologe Gene sich überhaupt darin tummeln. Im Gegensatz zu früheren Untersuchungen peilten sie somit nicht nur orthologe Gene an, die sich direkt von einem gemeinsamen Vorfahren herleiten, sondern nahmen auch paraloge Gene mit ins Visier, die einst durch Duplikation eines Vorläufergens entstanden waren. Und siehe da, mit diesem nochmals umfassenderen Datensatz stellten die Autoren die alten Verhältnisse wieder her: Die Schwämme sind die Schwestergruppe aller heutigen vielzelligen Tiere, und die Rippenquallen fügen sich als Schwestergruppe der Nesseltiere ein (Mol. Biol. Evol., msz013). Womit die Coelenterata-Hypothese wieder „lebt“.

DNA lügt nicht, klar – aber sie offenbart ihre tiefsten Wahrheiten offenbar nur dann, wenn man genug von ihr analysiert.



Letzte Änderungen: 08.04.2019