Editorial

Stickstoffmonoxid (NO)

von Winfried Köppelle (Laborjournal-Ausgabe 10, 1998)


Kleiner geht's nicht: Der Medizin-Nobelpreis wird seit 97 Jahren verliehen. Aber noch nie zeichneten die weisen Herrschaften vom Stockholmer Karolinska Medikokirurgiska Institutet die Erforscher eines Teilchens aus, dessen Molekulargewicht gerade einmal 30 beträgt.

Klein, aber oho: Was die Botensubstanz Stickstoffmonoxid (NO) im Organismus alles auslöst, ist fast noch komplexer als die intellektuellen und experimentellen Leistungen seiner Entdecker. Selbst die Presse witterte Sensationelles und huldigte die "Entdecker des Viagra-Prinzips" (Berliner Zeitung). Womit sie präzise am Ziel vorbeischoß. Was aber ist wirklich dran an NO, dem Atom-Pärchen der Fliegengewichts-Klasse?

NO begann seine wissenschaftliche Karriere in den späten 50er Jahren als kriminelle Verbindung: Zusammen mit Sauerstoff und Wasser bilden sich aus dem Radikal NO binnen Sekunden Nitrate und Nitrite - Substanzen, die der Organismus zu krebserregenden Nitrosaminen umwandeln kann. Außerdem verätzt das Gas die Atemwege und blockiert den Sauerstoffträger Hämoglobin. NO - eigentlich ein klarer Fall für die Labor-Gefahrstoff-Verordnung.

Wurde der Nobelpreis also für Giftgas-Forschung verliehen? In gewissem Sinne ja. In den 80er Jahren entdeckte eine US-Gruppe, daß in den Freßzellen des Immunsystems, den Makrophagen, eine NO-Synthase existiert. Der Organismus stellt also eine für ihn extrem toxische Substanz selbst her. Und zwar als Abwehrwaffe: Entzieht man nämlich Makrophagen die zur NO-Synthese notwendige Ausgangssubstanz Arginin, werden sie ohnmächtig im Kampf gegen Bakterien oder Tumorzellen. Pures NO dagegen wirkt gleichermaßen zerstörerisch auf Tumorzellen wie intakte Freßzellen. Und da nach neuesten Forschungen auch Pflanzen diese radikale Infektionsabwehr verwenden, könnte mit NO ein Teil des ältesten gemeinsamen Immunsystems höherer Organismen gefunden worden sein.

Aber NO munitioniert nicht nur die Abwehrbatterien des Körpers. Auch der Kreislauf scheint zu einem bedeutenden Teil vom "Molekül des Jahres 1992" (Science) reguliert zu werden. Seit mehr als 100 Jahren weiß man beispielsweise, daß Nitroglycerin bei Angina Pectoris-Anfällen Linderung verschafft. Ironischerweise weigerte sich Alfred Nobel 1895 höchstpersönlich, mit der Quelle seines Reichtums - Nitroglycerin - therapiert zu werden, und starb ein Jahr später.

Die Grundlagen der Nitroglycerin-Wirkung kamen jedoch erst Anfang der 80er Jahre ans Licht, als Robert Furchgott die Mechanismen der Blutgefäßkontraktion genauer untersuchte. Er fand eine ominöse Substanz, EDRF (endothelium derilved relaxing factor), die aus den zuinnerst liegenden Endothelzellen diffundiert und die benachbarte Gefäßmuskulatur entspannt. Furchgott und Louis Ignarro entdeckten außerdem, daß EDRF die Bildung des Botenstoffs CGMP stimuliert. Ferid Murad, der Dritte im Bunde der frisch gekürten Preisträger, hatte bereits Ende der 70er Jahre gezeigt, daß weder Nitroglycerin, noch die organischen Nitrate direkt auf die Gefäßkontraktion wirken. Wohl aber das aus ihnen gebildete NO. 1986 postulierten Furchgott und Ignarro, daß die Aktivität des gesuchten Relaxationsfaktors auf NO zurückgehen könnte - was der bei der Preisverleihung leer ausgegangene Salvador Moncada sowie Ignarro ein Jahr später bestätigten. Da dem kleinen Molekül noch weitere kreislaufrelevante Eigenschaften zugeschrieben werden, stellt es vielleicht sogar einen wichtigeren Blutdruck-Regulator dar als die jahrzehntelang favorisierten Verbindungen Angiotensin und Noradrenalin.


Doch NO tanzt noch auf einer dritten Hochzeit. 1989 fand Moncada Hinweise darauf, daß auch Hirnzellen NO produzieren. Solomon Snyders Gruppe in Baltimore entdeckte wenig später, daß die NO-Synthase vor allem in Neuronen vorkommt und NO dort als recht ungewöhnlicher Neurotransmitter fungiert. Alle anderen bisher bekannten Impulsüberträger sind nämlich chemisch stabil und werden in Vesikeln gespeichert. NO hingegen wird bei Bedarf kurzfristig synthetisiert, diffundiert aus dem Nervenende heraus und ins nächste Neuron hinein. Dort bindet es an das Häm-Eisen der Guanylat-Cyclase, wodurch die cGMP-Produktion hochgejagt wird - eine völlig neuartige Form der Nervenimpulsübertragung. NO könnte sogar einer der grundlegenden Faktoren für das Langzeitgedächtnis sein.

Für die sagenhafte Stützwirkung eines aktuellen Potenzmittels hingegen ist NO nur indirekt verantwortlich: Viagra hemmt das Enzym Phosphorsäure-Diesterase und verhindert so den vorzeitigen Abbau des Blutgefäß-Erweiterers NO. Und den der Erektion gleich mit.



Letzte Änderungen: 19.10.2004