Editorial

Orexine

von Birgit Liss (Laborjournal-Ausgabe 04, 1998)


Hunger! Essen um zu überleben. So einfach ist das im Prinzip auch heute noch. Doch in unserer Gesellschaft nehmen Störungen des Eßverhaltens ständig zu. Derzeit sind mehr als 40 Prozent aller Deutschen übergewichtig und der nie enden wollende Kampf gegen die überflüssigen Pfunde ist hart und oft erfolglos. So sei gepriesen, wer das Wundermittel bringt: Essen ohne Reue, und die Pfunde schmelzen wie von selbst. Doch ist bislang noch wenig über die komplexen Mechanismen bekannt, die unser Eßverhalten steuern. Ein bedeutendes Mosaiksteinchen ist jetzt gefunden. im Februar dieses Jahres veröffentlichte die Gruppe um Masashi Yanagisawa in Nature die Entdeckung einer neuen Klasse von Hormonen die offenbar im Gehirn Hungergefühle auslösen können. In Anlehnung an das griechische Wort ορεξισ "Orexis" für Hunger gaben die Forscher diesen aufsehenerregenden Neuentdeckungen den Namen Orexine. Zwei unterschiedliche Orexine, die aus einem gemeinsamen Vorläuferprotein hervorgehen, konnten von den Forschern identifiziert werden. Produziert werden diese neuartigen Peptide von Nervenzellen des lateralen Hypothalamus - einer Hirnregion, die schon seit längerem als Sitz des Hungerzentrums bekannt ist. Originellerweise wurden die Orexine nicht auf klassischem Wege gesucht, sondern im Rahmen der sogenannten reversen Endokrinologie gefunden. Das Forscherteam suchte systematisch nach Liganden für G-Protein gekoppelte "Orphan"-Rezeptoren, für klonierte Rezeptoren also mit bislang unbekannter Funktion.

So hat man jetzt also nicht nur die Orexine, sondern auch gleich deren Rezeptoren zur Hand, um wundervolle neuartige Medikamente zu designen. Einerseits könnten Orexin-Agonisten kranken, geschwächten Menschen dazu verhelfen, mehr Nahrung aufzunehmen und dadurch ihren Organismus zu stärken. Auf der anderen Seite werden viele Pharmafirmen davon träumen, einen Rezeptorblocker zu entwickeln, so daß die Orexine ihre Hungerbotschaft nicht mehr übermitteln können. Orexinblocker - die Appetitzügler der Zukunft?

Aber wir essen ja durchaus nicht mehr nur aufgrund eines Hungergefühls. Wäre es da nicht verlockend, überflüssiges Fett einfach so wegzuschmelzen? Schon 1994 schien die Wissenschaft diesen vermeintlich paradiesischen Zuständen ein Stück näher gekommen zu sein. Eine Arbeit der Gruppe um Jeffrey M. Friedmann sorgte mit der Identifizierung des "Obese"-Gens, welches für das Peptidhormon Leptin kodiert, für berechtigte Aufregung. Leptin, vom griechischem "leptos" für schlank, wird von prall gefüllten Fettzellen in die Blutbahn abgegeben und findet sein Ziel unter anderem ebenfalls im Hypothalamus. Dort vermittelt Leptin dem Organismus seine Botschaft - und die heißt: Du bist satt.

Die Wissenschaftler zeigten, daß fettsüchtige Mäuse mit einem Gendefekt für diesen Boten in der Tat durch tägliche Gaben von Leptin wieder rank und schlank wurden. Zusätzlich kann Leptin die Wirkung eines anderen Hungerboten, des Neuropeptids mit dem schlichten Namen Y, aufheben. Sollte Leptin also tatsächlich das gesuchte Wundermittel sein? Natürlich ist es nicht so einfach. Im Gegenteil, wurde doch bei vielen stark übergewichtigen Menschen ein schon erhöhter Leptinspiegel nachgewiesen. Anscheinend kann die Sättigungsbotschaft hier nicht an den Hypothalamus übermittelt werden. Der genaue Wirkmechanismus und das vollständige Wirkungsspektrum dieses Botenstoffes ist sehr komplex. So scheint etwa die Aktivierung von ATP-sensitiven Kaliumkanälen einen wichtigen Schritt in der Wirkungskaskade des Leptins darzustellen, der Nahrungsaufnahme und Energiestatus des Organismus verbindet.

Essen ist lebensnotwendig, das weiß die Menschheit, solange sie denken kann. Nun erfährt sie langsam, wie Eßverhalten gesteuert wird - nämlich sehr komplex. Mit Orexin und Leptin sind zwei wichtige Spieler entdeckt, andere Faktoren verrichten ihre Aufgabe noch im Verborgen.



Letzte Änderungen: 19.10.2004