Editorial

Eisfische

von Julia Offe (Laborjournal-Ausgabe 05, 2011)


Salmonellen füttern Darmzellen

Eisfische wie Macropteris maculatus besitzen
Anti-Freeze-Proteine (li., mit erweiterter Hydrathülle),
die verhindern, dass die Extremwohner im Eismeer gefrieren.
Bild: AG Havenith, Ruhr-Uni Bochum

Munter wie ein Fisch im Eiswasser fühlen sich Arten der Familie Nototheniidae, die sogenannten Eisfische, in den Gewässern rund um die Antarktis. Und das, obwohl die Wassertemperatur dort weniger als 0 °C beträgt – das Salzwasser gefriert erst ab -1,9 °C.

Das ist kalt. Sehr kalt. Zu kalt für Wirbeltierblut. Bei diesen Temperaturen gefriert es, die Eiskristalle bringen die Blutzellen zum Platzen. Aber diese Zellen sind lebensnotwendig – denn das bei praktisch allen bekannten Wirbeltierarten in den Erythrozyten vorliegende Hämoglobin bindet und transportiert Sauerstoff.


Blutleere Übermacht

Trotzdem können Eisfische im antarktischen Meerwasser leben. Aber sie haben keine speziell angepassten Globine, und ihre Erythrozyten sind auch nicht frostresistent. Sie haben nämlich gar keine Erythrozyten. Sie exprimieren noch nicht einmal Globin.

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals beschrieben, gab es 1954 die erste wissenschaftliche Arbeit zu den Eisfischen (Johan T. Ruud, Nature 1954, 173:848-50). Sie galten als „Fische ohne Blut“, denn selbst die bei anderen Fischen dunkelrot gefärbten Kiemen schimmern bei ihnen nur matt weiß.

So ungewöhnlich sie scheinen – diese Barschartigen machen nach Artenzahl und Biomasse den überwiegenden Teil der Fische in der Antarktis aus. Vor allem Fangflotten der Sowjetunion befischten sie seit den 1960er Jahren so stark, dass die Bestände bereits Anfang der 1980er Jahre als überfischt galten.


Leben auf Sparflamme

Während beim Menschen und anderen Wirbeltieren Mutationen im Globingen zu Krankheiten wie Thalassämie oder Sichelzellanämie führen, ist bei den elf Eisfischgattungen mit insgesamt fünfzehn Arten nur noch ein kleines Überbleibsel des α-Globingens zu finden, das β-Globingen fehlt praktisch ganz. Die sehr ähnlichen genetischen Spuren von Globin im Genom der verschiedenen Eisfischarten sind ein Hinweis darauf, dass die Mutation nur ein einziges Mal bei einem gemeinsamen Vorfahren vor etwa zehn Millionen Jahren stattfand.

Das farblose Blut dieser Fische transportiert den Sauerstoff als rein physikalisch gelöstes Gas. Möglich ist das nur durch das Zusammentreffen zweier Extrembedingungen: der hohe Sauerstoffgehalt des eisigen Wassers und der geringe Sauerstoffverbrauch der Fische bei niedrigen Temperaturen.

Der Kreislauf unterscheidet sich auch durch das zwei- bis viermal größere Blutvolumen im Vergleich zu Fischen in gemäßigten Breiten, ein langsamer schlagendes, großes Herz und einen größeren Durchmesser der Blutgefäße. Den Gasaustausch zwischen Blut und Wasser erleichtert die gute Durchblutung der schuppenlosen Haut.


Körpereigener Frostschutz

Das Blut der Eisfische ist wie das anderer Meeresfische hypoosmolar im Vergleich zum Salzwasser. Mit 550 Mikroosmol gefriert es theoretisch schon bei -1 °C und damit früher als das sie umgebende Meer (die schon erwähnten -1.9 °C). Dass das passiert, verhindert die zweite, einzigartige evolutionäre Errungenschaft dieser Gattung: das anti-freeze protein und das anti-freeze glycoprotein (AFP und AFGP).

Wie diese seit mehr als fünfzig Jahren bekannten Proteine genau funktionieren, haben letztes Jahr Forscher um Martina Havenith, Physikalische Chemie, Ruhr-Uni Bochum, klären können (Simon Ebbinghaus et al., J Am Chem Soc 2010, 132(35):12210-1). Das untersuchte AFGP besteht aus einer etwa vierzigfachen Aneinanderreihung des Tripeptids „Ala-Ala-Thr“, das jeweils am Threonin glykosyliert ist. Anders als bisher vermutet interagieren die Proteine nicht direkt mit den Wassermolekülen, sondern üben ihre Wirkung über eine sogenannte erweiterte Hydrathülle auch auf entferntere, nicht direkt mit dem Protein wechselwirkende Wassermoleküle aus. Die im Lebensraum der Eisfische allgegenwärtigen Eiskristalle können nun nicht mehr als Kristallisations­keim wirken. Dadurch erniedrigt sich der Gefrierpunkt des Blutes weiter auf -2,2 °C bis -2,7 °C.

Fragen wirft auch die Tatsache auf, dass die Larven der Fische in ihren ersten Lebenswochen kaum anti-freeze-Proteine exprimieren (Paul A. Cziko et al., J Exp Biol 2006, 209(Pt 3):407-20). Womöglich liegen dem fischigen Frostschutz also weitere Mechanismen zugrunde.


Stenotherme Sturköpfe?

Welche Folgen der Klimawandel für die Eisfische haben wird, ist schwer abzusehen. Während Versuche, die Tiere in mit 4 °C vergleichsweise warmen Wasser zu halten, bereits zum Tod der Fische führten, gibt es neuere Untersuchungen, nach denen sie sich gut an diese Temperatur anpassten und kaum in ihrem Schwimmverhalten beeinträchtigt waren.

Ein überraschender Befund, denn diese Fische galten lange als Paradebeispiel für Stenothermie, das Angepasstsein an einen Lebensraum ohne Temperaturschwankungen. Hohe Unsättigung der Membranlipide, das Fehlen von Hitzeschockproteinen sowie besonders kältestabile Linsenproteine im Auge, die ein Kältekatarakt verhindern, sind weitere Zeichen dieser Anpassung ans kalte Wasser.

Das Fehlen von Hämoglobin – was bisher als mit dem Wirbeltierdasein unvereinbar galt – bildet zusammen mit einem skurrilen Frostschutzprotein die evolutionäre Grundlage dafür, dass Eisfische in Massen das Südpolarmeer bevölkern. Bei Temperaturen, bei denen anderen das Blut in den Adern gefriert.



Letzte Änderungen: 23.05.2011