Editorial

Mikrochimären

von Peggy Paschke (Laborjournal-Ausgabe 11, 2008)


Chimäre

Die Bindung zwischen Mutter und Kind hält ein Leben lang. Doch ist dieses Band nicht nur emotionaler, sondern auch physischer Natur. Auch nach der Geburt sind Mutter und Kind durch Zellen "verbunden", die während der Schwangerschaft durch die Plazenta auf den jeweils anderen übertragen wurden.

Dass die Plazenta keine Barriere für den Zellaustausch darstellt, ist seit längerem bekannt. Schon der Pathologe Georg Schmorl fand im Jahr 1893 bei der Obduktion von Schwangeren fetale Zellen in den Lungenkapillaren. In den 1960er Jahren fand man in einem Neugeborenen Zellen, die vom metastasierenden Hautkrebs der Mutter stammten.

1979 gelang es Leonard Herzenberg mittels Immunofluoreszenz fetale Zellen im Blut Schwangerer zu identifizieren. Diese Entdeckungen wurden damals kaum beachtet. Dennoch bilden sie den Grundstein für das Forschungsfeld des "Mikrochimärismus".


Zweischneidiges Schwert

Chimäre steht für Mischwesen. Mikrochimären sind Organismen, die auch Zellen eines anderen Lebewesens besitzen. Die häufigsten Formen sind der erwähnte maternale (MMc) und der fetale Mikrochimärismus (FMc). Bei ersterem wandern mütterliche Zellen in das Kind ein, während sich bei letzterem fetale Zellen des Kindes in die werdende Mutter einnisten. Gefunden wurden die Invasoren im Blut, aber auch im Gewebe innerer Organe. Identifiziert werden die fremden Zellen mit DNA-Tests.

Das Ursprungsgewebe der Fremdlinge ist unbekannt. Man weiß jedoch, dass sie, haben sie einmal Fuß gefasst, Jahrzehnte in ihrem neuen Zuhause überdauern. Die fremden Zellen können sowohl Freund als auch Feind sein. Ein Beispiel für letzteres sind Autoimmunerkrankungen. Dass Frauen daran häufiger erkranken als Männer, könnte am FMc liegen. So fanden Lee Nelson und ihr Team vom Fred-Hutchinson-Zentrum in Washington einen Zusammenhang zwischen Bindegewebsverhärtung, und der Anwesenheit fetaler Zellen im Blut betroffener Frauen. Die Krankheit, bei der das Bindegewebe vernarbt, befällt Haut, Lunge oder Verdauungstrakt.

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Die Studien ergaben, dass Frauen mit Bindegewebsverhärtung bis zu 30mal mehr fetale Zellen in ihrem Blut haben als gesunde. Bei den fremden Zellen handelte es sich um B-Zellen, T-Zellen, natürliche Killerzellen und Monozyten, also Abwehrzellen des Fetus. Auch die während der Schwangerschaft auftretende Präeklampsie, bei der Bluthochdruck, Nierenfunktionsstörung und Ödeme auftreten, hängt mit FMc zusammen. Hier schwamm eine ungewöhnlich hohe Menge fetaler Zellen im Blut der Frauen: eine auf tausend mütterliche Zellen (normal ist ein Verhältnis 1:Million).

Mikrochimärismus kann sich auch günstig auswirken. Eine Untersuchung des Einflusses von FMc auf die Entstehung von Brustkrebs zeigte, dass Frauen mit fetalen Zellen im Blut seltener erkrankten (PLoS ONE 2008, 3(3):e1706). Der schützende Mechanismus ist unbekannt.

Ferner zeigte sich ein Zusammenhang zwischen der Konzentration fetaler Zellen im Blut schwangerer Frauen und einer Symptommilderung der Rheumatoiden Arthritis.

Was aber geschieht, wenn mütterliche Zellen in den Nachwuchs wandern? Im Fall von juveniler Diabetes, bei der es zu autoimmunvermittelter Zerstörung der Beta-Inselzellen kommt, differenzieren sich die Einwanderer zu eben diesen Insulinproduzenten und versuchen der geschädigten Bauchspeicheldrüse zu helfen.

Doch gleichzeitig sind die maternalen Zellen Triebfeder für Autoimmunerkrankungen des Nachwuchses. Ann Reed et al. von der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, fanden mütterliche Immunzellen bei Kindern, die an Dermatomyositis litten. Hier schwächt eine Entzündungsreaktion Haut und Muskeln. Als Reed et al. die Immunzellen in Zellkulturen einbrachten, lösten diese eine Kaskade immunologischer Reaktionen aus, an deren Ende eine Entzündung der Haut- und Muskelzellen stand (J Immunol 172(8):5041). Wahrscheinlich ist MMc auch Ursache des neonatalen Lupus erythematodes, einer Neugeborenenerkrankung, die zur Entzündung des Herzens führt. Im Herzmuskel der Kinder fand man mütterliche Kardiomyozyten.

Diese griffen zwar die kindlichen Herzmuskelzellen nicht an, waren aber Ziel mütterlicher Antikörper, die ebenfalls die Plazentaschranke überwunden hatten. Diese lösen den neonatalen Lupus aus. Möglicherweise geht die Krankheit von den mütterlichen Zellen aus und breitet sich auf die kindlichen aus.


Andere Mikrochimärismen

Manche Transplantate, deren Empfänger wegen einer Unverträglichkeit keine immunsuppressiven Medikamente erhielten, blieben dennoch vom Abwehrsystem der Patienten verschont. Vermutlich wurden Stammzellen des Spenders mittransferiert. Wie diese vor der körpereigenen Abwehr schützen, ist unklar.

Auch bei Patienten mit kombinierter Knochenmarks- und Nierentransplantation tritt Mikrochimärismus auf. Eine Lebertransplantation bewirkte in einem speziellen Fall sogar eine Blutgruppenveränderung. Vermutlich wanderten Stammzellen des Spenders in das Knochenmark ein und änderten dort die Blutgruppe von 0 Rhesus negativ auf 0 Rhesus positiv.

Auch in gesunden Erwachsenen kommt MMc vor. Womöglich ist jeder eine Mikrochimäre. Langzeitstudien und repräsentative Reihenuntersuchungen stehen jedoch noch aus. Dennoch trägt der Forschungszweig erste Früchte: In der nicht-invasiven Pränataldiagnostik wird fetale DNA aus dem Blut der Mütter gewonnen.



Letzte Änderungen: 29.12.2008