Editorial

Meeresviren

von Petra Stöcker (Laborjournal-Ausgabe 11, 2005)


Da schaffen es Viren nicht, sich ohne die Hilfe eines Wirts zu vermehren, bevölkern aber nichtsdestotrotz ganze Weltmeere. Tatsächlich sind marine Viren die am häufigsten vertretene und genetisch mannigfaltigste Lebensform der Ozeane. Als Hauptpathogene des Planktons können sie aber grundsätzlich alle Lebensformen infizieren - vom Bakterium bis hin zum Wal. Nebenbei bringen sie wichtige Regelkreise im Meer so richtig in Schwung, wie etwa Nahrungs- und Energiekreisläufe.

Ihre Bevölkerungsdichte wurde lange Zeit unterschätzt. Erste Zählversuche in den frühen 90ern mittels Transmissions-Elektronenmikroskopie (TEM) lieferten durchschnittlich 107 Viren/ml Wasser, Sedimente etwa 108-109 Viren/cm_, in Ufernähe jeweils mehr. Die TEM jedoch ist mittlerweile abgelöst durch die präzisere Epifluoreszenzmikroskopie. Deren beste Hochrechnungen liefern derzeit 3x106 Viren/ml in der tieferen See und bis zu 108 Viren/ml in Küstennähe.


Schwer wie Millionen Blauwale

Mal angenommen, alle Ozeane zusammengerechnet fassen über den Daumen gepeilt etwa 1,3x1021 Liter Meerwasser, worin sich durchschnittlich etwa 3x109 Viren/l tummeln. Dann ergibt dies insgesamt 4 x 1030 Viren. Das Otto-Normal-Meeresvirus enthält 0,2 fg Kohlenstoff und streckt sich etwa auf 100 nm Länge. Umgerechnet sind dies circa 20 Megatonnen gebundener Kohlenstoff, wofür im Vergleich etwa 75 Millionen normal genährte Blauwale nötig sind (je mit etwa 10 Prozent Kohlenstoff). Der Länge nach aneinander gereiht ergeben sie 10 Millionen Lichtjahre, also etwa 100 Mal die Entfernung durch unsere eigene Galaxis. Wen wundert's da, dass Meeresviren auch als zweitgrößter Biomassen-Bestandteil auf Erden nach den Prokaryoten gelten.

Diese Fülle beinhaltet überdies einen kunterbunten Mix unterschiedlichster Morphologien. Unter den isolierten marinen Phagen tauchen gehäuft solche mit zusammenziehbaren oder langen flexiblen Schweifen auf, wodurch etwa die drei Hauptfamilien Myoviren, Podoviren und Siphoviren definiert sind.

Die bemerkenswerte genetische Vielfalt beschränkt sich nicht, wie lange angenommen, auf dsDNA-Viren, die sich auf Bakterien und Prokaryoten spezialisiert haben. Auch marine Eukaryoten sind keineswegs gefeit vor viralen Infektionen. Die ersten aus Phytoplankton isolierten Vertreter entstammen beispielsweise einer Gruppe großer dsDNA-Viren, der Phycodnaviridae, deren DNA-Polymerase-Gene nachfolgend für erste genetische Studien dienten. Sie zeigten untereinander enorme genetische Variation, jedoch zugleich sehr ähnliche Sequenzen auch aus weit voneinander entfernten Wasserproben.


Ob DNA, ob RNA - alles dabei

Innerhalb der Myoviren stieß man auf nahezu identische Nukleotid-Sequenzen einzelner Vertreter, die aus so unterschiedlichen Gegenden wie dem Golf von Mexiko oder einem arktischen Schmelzwassersee stammten. Hier dienen quasi die Wirte als "Vehikel" für eine Art viralen Sex über mehrere Stufen.

Durch zunehmende Charakterisierung und Sequenzierung der dunklen Fluten stoßen die Wissenschaftler inzwischen vermehrt auf RNA-bepackte Vertreter. Allein aus einer kleinen Meerwasserprobe konnte man anhand der RNA-abhängigen RNA-Polymerase von Picorna-like Viren vier neue mögliche Familien bestimmen. Ein ssRNA-Virus, das die Alge Heterosigma akashiwo infiziert, führte dabei etwa zur Kreation der Marnaviridae.


Riesige Mengen neuer Sequenzen

All diese Erkenntnisse gewannen Wissenschaftler aus metagenomischen Studien in Küstengewässern und Sedimenten. In 200 Litern Meerwasser vermuten sie mehrere Tausend virale Genotypen, in einem Kilo Sediment bis zu einer Million. Für 60-80 Prozent der so erhaltenen Sequenzdaten findet sich kein Äquivalent in bestehenden Datenbanken, dagegen lieferten metagenomische Analysen von Prokaryoten zu 90 Prozent erkennbare Übereinstimmungen. Heißt also, dass hier eine ungeahnte Menge an neuen Sequenzen und Funktionen wartet.


Virus mit bakteriellem Gen

Die womöglich faszinierendste Entdeckung entstammt genomischen Analysen von Cyanophagen. Sie förderten Photosynthese-Gene cyanobakteriellen Ursprungs zu Tage: ein Homolog zu psbA, welches für das zentrale Protein D1 der Photosynthese-Kernreaktion kodiert, sowie high light-inducible (hli)-Gene, deren Produkte die Photosynthese-Maschinerie vor Lichtschäden schützen. Debbie Lindell vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge und ihr Team stellten fest, dass nach Infektion des Cyanobakteriums Prochlorococcus mit dem Podovirus P-SSP7 diese Phagen-Gene zusammen mit der Transkription von essentiellen Phagencapsid-Genen abgelesen werden (Nature, Epub ahead of print 12. Okt 2005). Sie müssen folglich fest in das virale Genom integriert sein.


Wirte im Pech


Lindell und Co. berichten auch, dass die Replikation des Virus abhängig von der Photosynthese-Rate ist. Es kann sich nach dem teilweisen Ausfall der Wirtsphotosynthese mittels eigens produzierter Proteine über Wasser halten, oder die noch bestehende weiter ankurbeln. Eine Virus-Infektion endet ja meist - von wenigen Ausnahmen mal abgesehen - im Untergang des Wirts, sprich Auflösung der Zelle. Pech für den Wirt als Individuum, Glück für die Kommune übriger Mikroben, da für sie freiwerdende organische Stoffe schneller verfügbar werden.

Klar, denkt man bei so vielfältigen Viren automatisch an eine gesundheitliche Gefährdung aus dem Meer. Bekannt ist, dass einige von ihnen zwischen Meeres- und Landwirten wechseln können. Ob sie indes auch Risiken für Menschen bergen, ist noch offen. Zuzutrauen ist es ihnen - so klein sie auch sind.



Letzte Änderungen: 10.01.2006