Editorial

Paläomikrobiologie

von Harald Zähringer (Laborjournal-Ausgabe 11, 2000)


1988 bargen Taucher vor der englischen Südküste aus dem Wrack eines 1825 gesunkenen Schoners einige Flaschen, die einst englisches Porter Ale enthielten. Die Flaschen gelangten zu Keith Thomas, der als Laborchef einer kleinen Waliser Brauerei ihren Inhalt verköstigte. Leider musste er feststellten, dass Seewasser eingedrungen war und den Flascheninhalt ungenießbar machte. Als trickreicher Wissenschaftler gab Thomas den Inhalt dennoch nicht verloren. Er spürte im Bodensatz einer Flasche Hefezellen auf, die er auf seinen Agarplatten ausstrich. Zur großen Überraschung erwachten die Hefen aus ihrem über 150 Jahre währenden Ruhestadium und wuchsen zu neuen Kolonien heran. Thomas kultivierte sie weiter und setzte sie in seiner Brauerei als Gärhefen ein, um ein Porter Ale nach alten Rezepten zu brauen: das heutige Flag Porter Ale.


Schlafen ist gesund

Berichte von Mikroorganismen, die erheblich längere Zeiträume, ja Jahrmillionen in Tiefengesteinsproben, Erdschichten, Salzlagerstätten, Bernstein, Meteoriten oder Permafrost schlummerten und rekultiviert werden konnten, sind seit Anfang des 20 Jh. bekannt. Schon der Urvater der modernen Bakteriologie, Louis Pasteur, soll einen Meteoriten angebohrt und nach Mikroorganismen abgesucht haben. Meist wurden diese Befunde aufgrund der unvorstellbar langen Zeiträume (bis zu 650 Mio. Jahre!), die die Mikroorganismen bis zu ihrem Wiedererwachen schlummernd verbracht haben sollen, als unseriös oder durch Artefakte und Kontaminationen verursacht abgetan.

In der Tat spricht einiges gegen das Überleben von Mikroorganismen über solch lange Zeiten. So schätzt man, dass Peptidbindungen annähernd 108 Jahre unbeschadet überstehen können. Wesentlich empfindlicher reagieren DNA-Moleküle auf lange Lagerzeiten. in archäologischen Fundstücken, die nur wenige tausend Jahre alt sind, ist die DNA bereits zu 99% beschädigt oder bereits fragmentiert.

DNA-Bruchstücke dienen daher als sicheres Indiz für die Authentizität alter Proben. Wie kann also die DNA in Mikroorganismen über Jahrmillionen stabil bleiben?

Dass dennoch ein Bacillus-Verwandter 250 Mio. Jahre ruhend überdauerte und wiederbelebt werden konnte, berichteten Russell H. Vreeland et al. jüngst in Nature (Bd. 407, 897-900). Die Paläomikrobiologen isolierten halotolerante Bakterien aus winzigen Salzwassereinschlüssen in Salzkristallen, die der nachweislich 250 Mio. Jahre alten Salado-Salzlagerstätte in New Mexico entstammten. Vreeland und seine Kollegen benannten den Halobakterienstanim "2-9-3". Sie sequenzierten seine ribosomale DNA (16S rDNA), verglichen diese mit Sequenzen bekannter Bakterien und ordneten die Ur-Bakterien als nahe Verwandte von Bacillus marismortui ein. Um Kontaminationen durch moderne Bakterien rigoros auszuschließen, behandelte das Team die Salzkristalloberfläche vor der Probenentnahme zunächst mit 10M NaOH und 10M HCl, bevor sie den Kristall autoklavierten. Die Autoren vermuten daher, dass die Urzeit-Halobakterien während der Permperiode des Paläozoikums in den Salzkristall eingeschlossen wurden, das Massensterben während Perm- und Kreidezeit verschliefen und nach 250 Mio Jahren von ihnen wiederbelebt wurden. Spekulation bleibt der Überlebensmechanismus. Zwar neigen die halophilen Urbacillen in Lösungen mit hoher Ionenstärke zur Sporenbildung, in den Salzkristalleinschlüssen wurden aber keine Sporen gefunden.

Ein anderer Vorreiter der Paläomikrobiologie, Raul J. Cano, beschrieb bereits 1995 in Science die Isolierung und Wiederbelebung eines mit Bacillus sphaericus verwandten "Jurassic Park"-Bakteriums. Cano, der sich auf die Untersuchung alter Bernsteinproben spezialisiert hat, isolierte die Bakterien aus dem Verdauungstrakt einer Biene, die in 25-40 Mio. Jahre altem Bernstein eingeschlossenen war. 1999 fand Cano lebensfähige Mikroorganismen in verschiedenen Bernsteinproben aus der Sammlung der Firma Ambergen, die sich der Erforschung von biologischem Material in Bernsteineinschlüssen widmet. Auch hier konnte Cano nach Geno- und Phänotypisierung der Bakterien kaum Ähnlichkeiten mit modernen Mikroorganismen feststellen, die üblicherweise Laboratorien oder Kliniken bevölkern.


Uralte Genome

Bestätigen sich die Berichte von Vreeland und Cano, dann hätten Evolutionsbiologen zum ersten mal Einsicht in die vollständigen Genome zweier ancienter Organismen. Diese können mit den Genomen ihrer modernen Verwandten verglichen werden und gestatten einen direkten Zugang zu Evolutionsprozessen, etwa der zeitabhängigen Mutationsrate von DNA-Molekülen. Kernfrage der Paläomikrobiologie dürfte aber der Mechanismus der Konservierung, bzw. die Überlebensstrategie der Mikroorganismen bleiben. Können Sporen, die ja als äußerst stressresistent bekannt sind, tatsächlich Jahrmillionen überleben, oder sind andere Ruhezustände mit extrem verlangsamtem Metabolismus für dieses zähe Festhalten am Leben verantwortlich?

Wie hartnäckig Spezies aus dem Reich der Bakterien sein können, mussten auch Wissenschaftler der NASA erfahren. Als im November 1969 Astronauten von Apollo 12 eine Fernsehkamera von der 3 Jahre zuvor auf der Mondoberfläche zurückgelassenen Mondphäre Surveyor 3 bargen und zur Erde zurückbrachten, wurden im inneren der Kamera Kolonien von Streptococcus mitis gefunden, die ihren kleinen Ausflug zum Mond unbeschadet überstanden hatten.

Ob das Leben auf der Erde, wie die Theorie der Panspermie nahelegt, von Bakteriensporen ausging, die nach langen kosmischen Reisen auf die Erde gelangten, sei allerdings dahingestellt.



Letzte Änderungen: 20.10.2004