Editorial

Beiträge zur Biochemie seltsamer Lebewesen (1)

Graf Dracula

von Siegfried Bär mit freundlicher Unterstützung von Hana Riha, Zeichnung: Frieder Wiech (Laborjournal-Ausgabe 01, 2005)


Zombies, Aliens und Vampire - in der ersten Folge unserer neuen Laborjournal-Serie "Beiträge zur Biochemie seltsamer Lebewesen" geht unser Experte Siegfried Bär der Frage nach, warum, zur Hölle, Graf Dracula nie aufs Klo muß.

Auch Sie werden schon einen Draculafilm gesehen haben. Es gibt ja hunderte davon. Noch häufiger sind die Bücher, die sich mit dem Thema befassen und ins Ungezählte gehen die Zuschauer und Leser.

Es sind dies nicht alles Idioten. Können die ihre Zeit mit abgeschmackten Phantasieprodukten vertun? Ist es möglich, daß Millionen von Euro für einen Mumpitz ausgegeben werden?

Kaum.

Wenn Dracula aber kein Mumpitz ist, dann muß er existieren. Kann er das?

In der Tat hat dieses Lebewesen einige seltsame Eigenschaften, die bisher der wissenschaftlichen Analyse entgangen sind. Mir scheint sogar, daß sie von der Wissenschaft ignoriert wurden. Dieser Beitrag soll diesem Übelstand abhelfen.Fragen wir uns also:
  • Warum trinkt Dracula Blut?
  • Warum haßt Dracula den Geruch von Knoblauch?
  • Warum meidet Dracula das Tageslicht?
  • Warum hat Dracula rote Augen?
  • Warum besitzt Dracula in der Nacht die Stärke von 20 Männern, verliert diese Kraft aber am Tage?
Die folgende Analyse stützt sich auf die einzig maßgebende Quelle zu Dracula: das Buch "Dracula" von Bram Stoker, geschrieben in den Jahren 1890-97. Jedem, der das Buch aufmerksam liest, fällt auf: Dracula geht nie auf's Klo. In dem äußerst gründlichen, ja geschwätzigen Werk Stokers wird nicht einmal erwähnt, dass in Draculas Schloß eine Einrichtung zur Abgabe von Ausscheidungsprodukten existiere, seien sie nun fester oder flüssiger Art.

Wenn Dracula auf die übliche Art nichts ausscheidet, dann ist der Schluß berechtigt, daß er auch keine Ausscheidungsorgane besitzt, keine Nieren, keine Blase, keinen Dickdarm.

Nun nimmt aber Dracula, darauf weist Stoker mehrmals hin, gewohnheitsmäßig größere Mengen frisches Blut auf. Gleichzeitig ist nicht beobachtet worden, daß Dracula im Laufe der Zeit an Masse zunähme. Er wird das aufgenommene Blut Stoffwechselprozessen unterwerfen und die entstehenden Endprodukte ausscheiden. Aber wie macht er das? Ohne Nieren, Blase, Dickdarm?


Was ist mit dem Schwefel?

Den aufgenommenen Kohlenstoff kann er als CO2 über die Lunge ausscheiden. Wie aber steht es mit dem Stickstoff, dem Schwefel (aus den Cysteinresten der Proteine), und dem Eisen (aus dem Häm des Hämoglobins)? Den entscheidenden Anhaltspunkt liefert das Tagebuch des Juristen Jonathan Harker, der Dracula in seiner transsylvanischen Burg besucht hat (zitiert in Bram Stoker):

Wir waren ja schon vorbereitet, daß etwas Übles hier unserer wartete, denn als wir vor der Tür standen, strömte ein schwacher garstiger Geruch aus den Ritzen heraus; aber wer hätte einen derartigen Gestank für möglich gehalten, wie er uns hier nun entgegenschlug? Außer mir war noch keiner der übrigen mit dem Grafen in einem geschlossenen Raum zusammengekommen, wenn ich in seiner Gesellschaft in seinen Zimmern war, befand er sich in dem ausgehungerten Stadium seiner Existenz; mit frischem Blute voll gesaugt habe ich ihn nur in der verfallenen Kapelle gesehen, wo der Wind freien Zutritt hatte. Der ihm hier zur Verfügung stehende Raum war aber klein und eng, und die Luft war stickend und moderig. Es roch erdig, ein Miasma schien in der übel riechenden Atmosphäre zu schweben. Wie soll ich aber den Gestank selbst beschreiben. Es war nicht der Leichendunst und der stechende süßliche Geruch frischen Blutes, sondern als wäre die Fäulnis selbst wieder in Fäulnis übergegangen. Pfui Teufel! Es wird mir ganz übel, wenn ich daran denke. Jeder Atemzug, den dieses Scheusal tat, schien sich im Raume festgesetzt und die Luft in ekelerregender Weise verpestet zu haben.

Dracula verbreitet also, wenn er Blut verstoffwechselt einen intensiven Gestank. Mit anderen Worten: Er gibt in großen Mengen stark riechende Stoffe ab. Offensichtlich scheidet Dracula einen Teil seiner Stoffwechselendprodukte in gasförmiger Form über Lunge und Haut aus. Was ist die molekulare Natur dieser Ausscheidungen?

Hier helfen uns zwei Beobachtungen weiter: Einmal die Abneigung Draculas gegen den Geruch von Knoblauch. Zum anderen die Tatsache, dass Säuger, und Dracula war einmal ein Säuger, die ihre eigenen Ausscheidungen ja eher meiden. Deftig formuliert: Keiner riecht gerne die eigene Scheiße, noch weniger die Scheiße von anderen. Dämmert es? Jawohl! Der Geruchsstoff von Knoblauch muß einer der Stoffe sein, die Dracula über Haut und Lunge ausscheidet.


Endlich geklärt: Die Gase sind's, die uns so stinken!

Der blasse Transsylvanier scheidet wohl eine ganze Reihe gasförmiger oder leicht flüchtiger Schwefelverbindungen aus. Zusammen ergeben die den widerlichen Geruch, denken Sie nur an Mercaptoethanol. So wird Dracula den Schwefel los, den er über die Cysteinreste der Blutproteine und Peptide aufnimmt.

Mit dem Geruchsstoff von Knoblauch jedoch hat es noch eine besondere Bewandnis. Es handelt sich um Allicin, um 2-Propen-1-thiosulfin-säure-(S)-allylester. Die Allicin-Ausscheidung über Haut und Lungen ist ineffizient, was Sie daran ermessen können, daß ihnen nach dem Genuß einer einzigen Knoblauchzehe noch tagelang die Leute aus dem Wege gehen. Draculas Blutdurst und damit die Schwefelzufuhr ist aber beachtlich. Daraus folgt, dass sein Allicinspiegel sehr hoch sein muß. Sie kennen die Wirkungen von Allicin, die Produzenten von Knoblauchpillen preisen sie laut genug: Allicin ist bakterizid und beugt der Arteriosklerose vor. Damit erklärt sich zwanglos die lange Lebensdauer Draculas. Er soll schon seit dem 15. Jahrhundert sein Wesen treiben.

Gewisse Stoffe des Blutes widerstehen jedoch einer gasförmigen Ausscheidung. Allen voran das Eisen, das im Blut als Hämeisen massenhaft auftritt. Beim Menschen wird überschüssiges Eisen über den Darm ausgeschieden. Dracula kann das nicht; trotzdem muß er die beachtlichen Eisenmengen, die mit dem Blut anfallen, loswerden. Wie fängt er das an, der alte Schwerenöter?

Diese Frage, ich gebe es zu, war eine harte Nuß und verlangte einige Denkarbeit und das Studium etlicher Chemiebücher. Aber die Forschung hat sich gelohnt, denn gerade diese Frage führte in den Kern des Phänomens Dracula. Zur Darstellung der Lösung muß ich etwas ausholen. Ich beginne mit einem Zitat Stokers: Schon das Land, in dem dieser Nicht-Tote seit Jahrhunderten gelebt hat, ist voll von geologischen und chemischen Wundern. Es gibt tiefe Höhlen und Risse, die sich unendlich weit in das Innere der Erde erstrecken.

Stoker deutet es nur an, doch besteht kein Zweifel, daß Dracula enge Verbindungen zur Hölle und damit zum Teufel haben muß. Es ist anzunehmen, daß Dracula die Hölle gelegentlich aufsucht oder aufsuchen muß, zum Beispiel für Lehrgänge oder Fortbildungsseminare. Vielleicht bewirbt er sich dort auch um eine feste Stelle und muß antichambrieren und Vorträge halten. Möglicherweise ist die Hölle eine Art Universität? Genau weiß man das nicht. Sicher ist dagegen, daß in der Hölle hohe Temperaturen herrschen und - weil sich die Hölle ganz weit unten befindet - auch hoher Druck.

Ein Lebewesen, das in die Hölle kommt, täte also gut daran, eine Verbindung parat zu haben, die brandhemmend wirkt. Einer der wirksamsten Brandhemmer ist Eisencarbonyl Fe(CO)5. Kann diese flüchtige, ölige, gelborangefarbene Flüssigkeit der Stoff sein, den Dracula aus dem Bluteisen herstellt?


Kann Dracula CO herstellen?

Er kann. Selbst der menschliche Stoffwechsel produziert 3-6 cm3 CO am Tag. Diese CO-Produktion nimmt - man höre und staune - unter pathologischen Bedingungen, die mit der Hämolyse von roten Blutkörperchen verbunden sind, noch zu. Wir können also davon ausgehen, daß Dracula die Ausgangsverbindungen zur Herstellung von Eisencarbonyl, in ausreichendem Maß besitzt. Eisencarbonyl entsteht aus Eisen und CO bei 200 °C und 100 at Druck. Solche Bedingungen dürften sich in der Hölle leicht erreichen lassen.

Das Szenario wäre also folgendes: Das mit dem Blut aufgenommene Eisen wird vom Vampir zwischengespeichert, und in der Hölle mit CO zu Eisencarbonyl umgesetzt, das wiederum als Brandhemmer wirkt und sein Überleben in dem heißen Habitat ermöglicht. Für eine Zwischenspeicherung des Eisens sprechen Draculas rote Augen. Hier handelt es sich wohl um Ablagerungen von roten Eisenverbindungen im Augenhintergrund.

Eine gewisse Menge von Eisencarbonyl könnte aber auch auf enzymatischem Wege hergestellt werden. Das Eisencarbonyl müßte dann in Speicherorganen nahe der Haut, denn dort wird es gebraucht, für eventuelle Höllenbesuche aufbewahrt werden. Nun wandelt sich aber Eisencarbonyl unter UV-Licht - einem Bestandteil des Sonnenlichtes - in mehrkernige Carbonyle um. Diese Feststoffe lagern sich in der Haut ab und führen zu Nekrosen. Daher meidet der Vampir das Sonnenlicht. Mehr noch: Dracula fährt tagsüber seinen Stoffwechsel zurück, und drosselt so die Produktion von Eisencarbonyl. Daher verfügt Dracula nur Nachts über die Kraft von 20 Männern. Mit dem reduzierten Tagesstoffwechsel ist er so schwach wie Sie und ich.

Ich stehe nicht an, hier die Theorie aufzustellen, dass Dracula Blut nur deswegen trinkt, um genügend Eisencarbonyl synthetisieren zu können. Als Merksatz formuliert:

Zur Hölle fahren ist sein Ziel mit Blut und Eisencarbonyl

Nachdem ich diese Erkenntnisse in die Welt gesetzt habe, will ich mit einer falschen Theorie aufräumen, die sich in etlichen Lehrbüchern findet, darunter meinem eigenen (Biochemie light, Seite 74). Dort steht:

Bei der erythropoietischen Porphyrie fehlt die Uroporphyrinogen-Cosynthase, die das Uroporphyrinogen III synthetisiert. Statt Uroporphyrinogen III entsteht Uroporphyrinogen I, das aber nicht zum Häm weiterreagiert, sondern zum Uroporphyrin I. Uroporphyrin I wird teils in Organen und der Haut abgelagert, teils über den Harn ausgeschieden. Das in der Haut abgelagerte Uroporphyrin I sensibilisiert die Haut gegen Licht; Folge sind schwere Hautnekrosen. Auf Porphyrie-Kranke geht vielleicht die Legende vom menschlichen Vampirismus zurück.

Dracula wird jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach kein Häm synthetisieren und damit auch keine Vorstufen der Hämsynthese wie Uroporphyrinogen III. Warum sollte er? Führt er sich doch Häm in riesigen Mengen mit der Nahrung zu.

Damit sind wir am Ende meiner Weisheit angelangt. Für etliche Fragen hat sie nicht ausgereicht:
  • Warum wirft Dracula keinen Schatten?
  • Warum gibt er im Spiegel kein Bild?
  • Warum bevorzugt er das Blut junger hübscher Frauen, obwohl deren Blut 10 % weniger Erythrozyten und Eisen aufweist als männliches?
  • Warum muß er in Heimaterde schlafen?
Die ersten Fragen sind physikalischer Natur, zu deren Untersuchung mir - offen gesagt - die Kompetenz fehlt. Die beiden letzten zu klären, bleibt dem Eifer hoffnungsvoller Nachwuchsforscher vorbehalten.



Letzte Änderungen: 22.09.2005