Warum so kompliziert?

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Editorial

Schöne Biologie

Millionen Parasiten wissen es: die Evolution verfolgt keineswegs höhere Komplexität als Ziel. Schließlich zeigt der teilweise dramatische sekundäre „Rückbau“ von Organen und Strukturen, der fast ausnahmslos auf den Übergang vom freiem zu parasitärem Leben folgt, vor allem eines: Wird etwas für die ausgewählte Lebensweise nicht mehr unbedingt benötigt, dann wird es schnell zur unnötigen Last, in die man am Ende mehr Energie hineinsteckt als man Nutzen daraus zieht. Und ist dieser Wendepunkt erst einmal erreicht, dann wird das stete Wechselspiel zwischen Variation und Selektion dieses bilanznegative „Etwas“ ziemlich zügig aus dem Organismus eliminieren. Englischsprachige Forscher fassen dieses Prinzip gerne kurz und prägnant zusammen als „Use It or Lose It“.

Parasiten, okay! Davon gibt es zwar viele, aber sind die nicht doch irgendwie Sonderfälle? Nimmt man die mal raus, ist schließlich über die Abermillionen Jahre Evolution im Mittel doch klar eine Zunahme der organismischen Komplexität zu erkennen.

Editorial

Wohl schon, allerdings kann das auch sehr schnell täuschen. Wie sehr, das zeigen frische Erkenntnisse, die Wiener Zoologen um Andreas Wanninger gerade zu vermeintlich „ursprünglichen“ Weichtieren (Mollusken) veröffentlicht haben (Current Biol., 17. Okt. 2013, doi: 10.1016/j.cub.2013.08.056).

Fangen wir bei den Mollusken an. Mit etwa 200.000 Arten von Schnecken, Muscheln, Tintenfischen, etc. gehören sie zu den artenreichsten Tierstämmen überhaupt. Zudem haben sie bis heute eine beachtliche morphologische Variabilität hervorgebracht. Die Frage, die viele interessiert, lautet daher: Wie sah bei all der heutigen Vielfalt der letzte gemeinsame Vorfahr, also quasi der „Stammvater“ der Mollusken aus – und welche heute lebenden Weichtiere ähneln diesem noch am meisten?

Viele Spezialisten hatten hierbei vor allem die schalenlosen Wurmmollusken (Aplacophora) unter Verdacht – wegen ihrer vergleichsweise einfachen Körperarchitektur. Als die Wiener sich jedoch den Lebenszyklus des wenige Millimeter großen Aplacophoren Wirenia argentea genauer anschauten, erlebten sie eine Überraschung: Die Wirenia-Larven sind deutlich komplexer gebaut als die erwachsenen Tiere. So besteht die adulte Körpermuskulatur neben einigen „Rückenbauchmuskeln“ im Wesentlichen aus einem einfachen Hautmuskelschlauch.

Die viel ausgefuchstere Muskulatur der Wirenia-Larven gleicht dagegen verblüffend derjenigen in der Aplacophoren-Schwestergruppe der Käferschnecken (Polyplacophora), die mit ihrem großen Saugfuß, den acht Schalenplatten und einer insgesamt komplexeren Anatomie schon viel eher an Schnecken und Muscheln erinnern. Klar, hatten daher die Experten bislang gedacht, dass die „verzwickteren“ Käferschnecken sich erst nach den „einfachen“ Aplacophoren von der Stammlinie der Mollusken abgespaltet haben.

Doch so „einfach“ sind die Wurmmollusken jetzt nicht mehr. Vielmehr ist klar, dass sie ihre Muskulatur und womöglich auch andere Organsysteme erst sekundär vereinfacht haben. Und dadurch rutschen sie mit den Polyplacophora im Prinzip wieder auf dieselbe „Komplexitätsstufe“. Denn der gemeinsame Vorfahr von beiden Gruppen hatte demnach offenbar auch schon eine hochdifferenzierte Muskulatur.

Die gleiche Botschaft also wie bei den Parasiten: Eine Zunahme der Komplexität ist keineswegs Selbstzweck oder gar Ziel der Evolution. Es geht einzig um Überleben durch Fortpflanzen. Und Steigerung der Komplexität ist dazu nur ein Mittel zum Zweck; sekundäre Reduktion von Komplexität – so konträr dies auch erscheinen mag – ein anderes.



Letzte Änderungen: 06.11.2013