Die letzte Bastion
(08.12.2022) Im österreichischen Kundl produziert das letzte europäische Werk Penicillin – und zwar für die ganze Union. Doch wie lange noch?
Etwa 30 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, direkt am sanft dahinplätschernden Inn, liegt die 5.000-Seelen-Gemeinde Kundl. Das kleine Städtchen in den Tiroler Alpen wirkt auf den ersten Blick verschlafen und ist doch seit Jahrzehnten einer der bedeutendsten Pharma-Standorte Österreichs. Und ganz aktuell mausert sich das Werk in Kundl aufgrund der anhaltenden Liefer- und Versorgungsengpässe von Arzneimitteln sogar zu einem der wichtigsten Medikamentenhersteller in ganz Europa. Der Grund: Es ist das einzige verbliebene Werk in der Europäischen Union, das Penicillin herstellt, unter anderem das weltweit mit am häufigsten verschriebene Breitband-Antibiotikum Amoxicillin. Und das muss für alle reichen.
Unvermutete Gemeinsamkeiten
Die Geschichte des Arzneimittel-Werks beginnt allerdings mit einem etwas anderen, aber ebenso wirkungsvollen Produkt: Sie beginnt mit Bier. Bereits 1658 gründete der Adlige Bartlmä Plank in den Räumlichkeiten des alten Kundler Schlosses eine Brauerei, die in den folgenden Jahrhunderten expandierte und weitere Niederlassungen eröffnete. 1929 wurde die Brauerei durch die Brau AG übernommen und florierte weiter. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand das emsige Treiben der Braumeister jedoch ein jähes Ende. Die Brauerei musste ihren Betrieb wegen Rohstoffmangels einstellen. Der französische Besatzungsoffizier Michel Rambeaud erkannte jedoch das Potenzial der nun verwaisten Brauhallen. Dem ausgebildeten Chemiker fiel auf, dass das Brauen von Bier und die Herstellung des dringend benötigten Penicillins eine essenzielle Gemeinsamkeit aufwiesen: die Fermentation.
Rambeaud überzeugte die Leitung der Brau AG, die leer stehende Produktionsstätte für die Penicillin-Herstellung umzubauen. 1946 wurde daraufhin die Biochemie GmbH gegründet. Bereits 1948 liefen die ersten Penicillin-Ampullen in Kundl vom Band und 1954 versorgte das Pharmaunternehmen schon ganz Österreich. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sich die Biochemie GmbH zum größten Arzneimittel-Produzenten des Landes. Als das Unternehmen auch außerhalb Österreichs immer mehr Umsatz erwirtschaftete, wurde es 1964 durch den Schweizer Pharmakonzern Sandoz übernommen. Heute ist die Kundler Firma dessen hundertprozentige Tochter. Durch den Ausstieg zahlreicher Pharmaunternehmen aus der Antibiotika-Produktion ist das österreichische Werk mittlerweile der einzige Produzent für Penicillin und andere Penicillin-Derivate in ganz Europa. Daraus resultiert eine gefährliche Marktkonzentration. So deckt das in Kundl produzierte Breitband-Antibiotikum Amoxicillin etwa 70 Prozent des deutschen Bedarfs.
Die Kehrseite der Globalisierung
Doch wie konnte es dazu kommen? Prinzipiell ist die Versorgungslage bei bestimmten Medikamenten nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie schwierig. Der Grund: Über die Jahre haben die meisten Pharmaunternehmen die Produktion von Basismedikamenten, wie Ibuprofen und Penicillin, nach China und Indien verlagert. Dort werden die Arzneimittel oft von nur einem Hersteller produziert. Nur so sei nach Angaben der Pharmafirmen dem erheblichen Preisdruck insbesondere auf dem Generika-Markt beizukommen. Kommt es nun durch Corona-Maßnahmen oder beispielsweise einem Brand in der Fabrik (wie 2018 bei Ibuprofen) zum Produktionsstopp, wird es schnell eng, zumal Generika-Hersteller in der Regel keine großen Lagerbestände unterhalten.
Die Menge an nicht verfügbaren Medikamentendosen ist laut DAZ.online seit 2017 kontinuierlich gestiegen, von etwa 4,3 Millionen Dosen auf 18 Million im Jahr 2019. Mittlerweile dürfte die Zahl um einiges höher liegen, da nach Recherchen des NDR im September 2022 etwa 250 Medikamente gar nicht zu bekommen waren. Momentan sind viele Hustensäfte ein begehrtes, aber unerreichbares Gut.
Auch auf Bundesebene ist die Problematik ebenfalls bekannt und schlägt sich in derzeit 261 Einträgen auf der Liste der versorgungskritischen Wirkstoffe des BfArM nieder. Die Liste enthält Wirkstoffe, deren Verfügbarkeit zwar zum Teil nicht akut gefährdet ist, es aber in Zukunft werden könnte. Wenn etwa „drei oder weniger Zulassungsinhaber, endfreigebende Hersteller oder Wirkstoffhersteller […] hinterlegt sind“. Auf der Liste unter anderem: Acetylsalicylsäure, Amphothericin B sowie Atropin – und das sind nur die Einträge unter dem Buchstaben A.
Auf der Kippe
Das Kundler Werk, das mittlerweile wie auch der Mutterkonzern Sandoz zur Novartis-Gruppe gehört, hält erstaunlicherweise noch immer Stellung in Europa. Allerdings würde ein Produktionsausfall in Österreich ähnliche Auswirkungen haben wie der eines asiatischen Zulieferers. Denn auch die Penicillin-Produktion in Tirol stand schon auf der Kippe. Bereits Anfang 2020 stellte Novartis laut ORF die Rentabilität des Werks infrage und dachte laut über den Einkauf des Wirkstoffs in Asien nach. Da man so auch beim Penicillin völlig auf Zulieferer angewiesen wäre, schaltete sich die Politik ein. Im Juli 2020 einigten sich Novartis und die österreichische Regierung auf einen Deal: Der Pharmariese verpflichtete sich für 10 Jahre, weiterhin Penicillin in Kundl herzustellen. Im Gegenzug unterstützen das Land Österreich und das Bundesland Tirol das Werk mit 50 Millionen Euro. Novartis selbst versprach, 100 Millionen Euro in den Standort zu investieren.
Dabei stieß die Art und Weise, mit der Novartis agierte, auf Kritik, berichtete der ORF. So soll der Konzern die österreichische Regierung mit seinen Auslagerungsplänen bewusst unter Druck gesetzt haben. Zudem hätte der Pharmariese die Förderung des Staates sicher nicht nötig gehabt, gab der Konzern doch im Mai 2020 bekannt, dass Kundl zur Produktionsstätte für Brolucizumab (Handelsname Beovu), einem Präparat zur Behandlung der feuchten Makuladegeneration, ausgebaut werden soll. Dafür investierte das Schweizer Unternehmen 27,4 Millionen Euro in das Werk.
Ungewisse Zukunft
Zumindest vorübergehend bleibt Penicillin ein essenzielles Medikament „made in Europe“. Und zwar von der Wirkstoff-Herstellung bis zum fertigen Präparat. Damit die Penicillin-Produktion in Kundl auch langfristig fortgesetzt werden kann, fordern Pharmaverbände schon länger Anpassungen der in Europa festgesetzten Preise für Arzneimittel. Die fixen Preisvorgaben stellen europäische Medikamentenhersteller vor Probleme, nicht zuletzt wegen der seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine massiv gestiegenen Energie- und Rohstoffpreise. So ist der Ausgangspunkt vieler Wirkstoff-Synthesen Erdöl oder eines seiner Derivate. Um hier zumindest ein wenig Abhilfe zu schaffen, investierte die Novartis-Tochter Sandoz im November 2022 erneut rund 50 Millionen Euro in die Erweiterung des Werks. So soll die Produktion effizienter und energiesparender möglich sein.
Der Fortbestand des Kundler Penicillins ruht jedoch weiterhin auf wackligen Beinen. So plant der Mutterkonzern Novartis, laut Tiroler Tageszeitung, Mitte 2023 den Börsengang der Tochter Sandoz und damit deren komplette Abspaltung von der Novartis-Gruppe. Damit würden sich die beiden Pharmaunternehmen als Konkurrenten auf dem Markt platzieren – mit unklaren Auswirkungen auf den Kundler Standort.
Tobias Ludwig
Bild: Gemeinde Kundl
Weitere Artikel aus der Biotech-Welt
- Auf der Spur des guten Geschmacks
… befindet sich das Münchner Start-up-Projekt Harmonize. Die Jungunternehmer wollen Lebens- und Genussmitteln ihre Geschmackssignatur entlocken.
- Putzmatrix, Membranrührer und Organboxen
Mit diesen Geschäftsideen haben die drei Start-ups Lumatix Biotech, BioThrust und Vivalyx die Jury des BioRiver-Boost!-Wettbewerbs überzeugt.
- Goliath gegen die Konkurrenz
In den letzten Jahren hat Pharmagigant Novartis ein paar Mal mit der Justiz Bekanntschaft gemacht. Zuletzt kam sogar das Schweizer Kartellamt vorbei.