Der Neanderthaler
in uns

(03.10.2022) Svante Pääbo erhält den Medizin-Nobelpreis für Forschung zur menschlichen Evolution. Seine Analysen alter DNA begründeten die Paläogenetik.
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Editorial

Wer sind wir und wo kommen wir her? Seit jeher stellen sich Menschen diese beiden Fragen und versuchen mit Hilfe von Paläontologie und Archäologie, Antworten darauf zu finden. Seit im Jahr 1856 in der Feldhofer-Höhle im Neanderthal die Überreste eines Frühmenschen gefunden wurden, birgt unsere Beziehung zu diesem „Neanderthaler“ eine besondere Faszination. Sind sich moderner Mensch und Neanderthaler begegnet? Falls ja, verliefen diese Begegnungen friedlich oder waren unsere Vorfahren sogar (mit)verantwortlich für das Aussterben der Verwandten? Was unterscheidet uns überhaupt von ihnen?

Durch Ausgrabungen und dem Vergleich von Knochen wissen wir schon viel: So tauchte der moderne Mensch erstmals vor etwa 300.000 Jahren in Afrika auf und gelangte vor 70.000 Jahren über den Mittleren Osten in alle Teile der Welt. Der Neanderthaler entstand dagegen vor 400.000 Jahren außerhalb Afrikas und besiedelte hauptsächlich Europa und das angrenzende Asien. Seine Spuren verloren sich vor 30.000 Jahren, womit mehrere zehntausend Jahre blieben, in denen sich die beiden Menschenarten in Europa und Asien begegnet sein sollten. Doch wie diese Begegnungen aussahen, können Knochenfunde alleine nicht verraten.

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Es steckt in der DNA

Svante Pääbo, der nach seiner Doktorarbeit an der Universität von Uppsala und Postdoc-Aufenthalten in der Schweiz und den USA bis heute in Deutschland forscht, war fasziniert von der Idee, moderne genetische Methoden anzuwenden, um das Erbgut des Neanderthalers zu untersuchen und mit dem des modernen Menschen zu vergleichen. Dafür musste er jedoch jede Menge methodischer Probleme lösen, denn DNA aus prähistorischen Funden ist in der Regel stark fragmentiert und durch chemische Modifikationen verändert. Hinzu kommt, dass die kleinen Mengen an sogenannter alter DNA (aDNA) durch viel größere Mengen an heutiger DNA kontaminiert sind. Insbesondere das Erbgut der Menschen, die mit den Knochen arbeiten, lässt sich nur schwer von aDNA trennen. Aus diesem Grund konzentrierte sich Pääbo zuerst darauf, seine Methoden an tierischen Funden zu verfeinern. Wesentliche Fortschritte darin machte er in seiner Postdoc-Zeit an der University of California in Berkeley bei Allan Wilson, der mithilfe molekularbiologischer Methoden bereits wichtige Erkenntnisse zur Evolution des Menschen beigetragen hatte.

Im Jahr 1990 wechselte Pääbo auf eine Professur an die Ludwig-Maximilians-Universität in München. Dies war für ihn der richtige Zeitpunkt, um sich an die Neanderthaler-DNA zu wagen. Dabei setzte er zunächst auf die Mitochondrien-DNA (mtDNA), die in tausendfacher Kopie vorliegt und außerdem mit 16.500 Basenpaaren viel kleiner ist als das Kerngenom. Es gelang ihm, vom Rheinischen Landesmuseum in Bonn ein kleines Knochenstück aus der Feldhofer-Höhle zu erhalten, aus der er tatsächlich die rund 40.000 Jahre alte mtDNA isolieren und sequenzieren konnte. Weil mtDNA nur begrenzte Information enthält und außerdem ausschließlich über die Mutter weitergegeben wird, war der nächste logische Schritt, das Kerngenom des Neanderthalers zu entschlüsseln. Dafür stellte Pääbo – seit 1999 Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig – ein internationales, rund 50-köpfiges Team zusammen. Die analysierten Knochenproben stammten vor allem aus der kroatischen Vindija-Höhle, später kamen Funde aus Deutschland, Spanien und Russland hinzu.

Im Jahr 2010 war es endlich so weit: Das Neanderthaler-Genom konnte mit dem inzwischen publizierten Referenzgenom des Homo sapiens verglichen werden. Die Ergebnisse zeigten unter anderem, dass sich die beiden Menschenarten vor rund 800.000 Jahren voneinander getrennt haben müssen. Die große Überraschung aber war, dass zwischen ihnen nachweislich ein Genfluss stattgefunden hat. Unsere Vorfahren müssen also Neanderthaler getroffen und mit ihnen Kinder gezeugt haben.

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Zufallsfund Denisova-Mensch

Auf der Suche nach weiteren Neanderthaler-Genomen kam es 2008 dann noch einmal zu einer Sensation: Die Analyse von mtDNA aus einem 40.000 Jahre alten Fingerknochen aus der Denisova-Höhle im südlichen Sibirien lieferte eine Sequenz, die weder von einem modernen Menschen noch von einem Neanderthaler stammte. Offensichtlich hatte Pääbos Team eine ganz neue Menschenart entdeckt.

Heute gehen Wissenschaftler davon aus, dass H. sapiens, als er in Eurasien einwanderte, bereits zwei Menschenarten dort vorfand: im westlichen Teil den Neanderthaler, im östlichen den Denisova-Menschen. Mit beiden zeugte er Kinder, in deren Genom er Spuren hinterließ. Zwischen ein und vier Prozent des gesamten Genoms von heutigen Menschen mit europäischen oder asiatischen Ursprung lässt sich auf den Neanderthaler zurückführen. Bei Menschen aus Südostasien und Melanesien kommen noch einmal sechs Prozent Denisova-DNA hinzu.

Pääbos Ergebnisse ermöglichen aber auch, gezielt nach Unterschieden zwischen H. sapiens und H. neanderthalensis zu suchen. Denn obwohl der Neanderthaler wie sein Verwandter ein großes Gehirn hatte, in Gruppen lebte, Werkzeuge benutzte und seine Toten bestattet, verschwand er irgendwann von der Bildfläche. Was war der Grund dafür, und wieso gelang es H. sapiens, die ganze Welt zu besiedeln? Die Erforschung dieser Fragen hält bis heute an.

Spuren im Genom

Wir wissen aber bereits, dass die Gene, die der Neanderthaler in unserem Genom hinterließ, unsere Art verändert und noch heute einen Einfluss auf unsere Physiologie haben. So erhöht eine bestimmte Neanderthaler-Genvariante das Risiko dafür, schwer an COVID-19 zu erkranken. Andere Genvarianten verbessern dagegen Immunfunktionen oder schützen vor Fehlgeburten. Die Denisova-Version des Gens EPAS1 ist bei heutigen Tibetern verbreitet und verbessert ihr Überleben bei reduziertem Atmosphärendruck. Mit seiner über drei Jahrzehnte andauernden Arbeit an alter DNA hat Pääbo das Fundament der neuen Forschungsdisziplin Paläogenomik gelegt. Dafür verleiht ihm das Nobelpreis-Komitee den diesjährigen Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.

Larissa Tetsch

Bild: Niklas Elmehed/Nobelprize.org


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