Aus dem Darm
ins Labor

(31.03.2022) Vor genau 100 Jahren spendete ein Diphtherie-Patient der Molekularbiologie eines ihrer wichtigsten Werkzeuge, den E.-coli-Stamm K-12.
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Unter dem Elektronenmikroskop – E.-coli-Porträt aus dem Jahre 1968

Editorial

Nur wenige Stunden nach unserer Geburt siedelt sich über Nahrung und Kontakt ein erster Mitbewohner in unserem bis dahin Mikroben-freien Darm an – Escherichia coli. Benannt ist das Bakterium nach dem Kinderarzt Theodor Escherich, der es im Darm von verstorbenen, wenige Tage bis Wochen alten Säuglingen 1886 erstmals detailliert beschrieb. Er nannte es damals jedoch noch Bacterium coli commune, abgeleitet vom Fundort, dem Colon.

In seiner Habilitations­schrift beschreibt Escherich die stäbchen­förmigen Einzeller fast poetisch: „Die individuellen Verschieden­heiten der Colonien vermehren sich noch bei der Betrachtung mit schwacher Vergrösserung. Die Oberfläche erscheint bald rissig, zerklüftet, von einem zarten homogenen Saum umgeben, bald von moireeartig angeordneten zierlichen Linien durchzogen, dann wieder radiär wie von einem Scheitel ausstrahlend oder mit mäander­artiger Zeichnung des Randes.“ Der Kinderarzt begnügte sich aber nicht nur mit Äußer­lichkeiten, er kultivierte die Mikroben auch auf verschiedenen Medien („Sie gedeihen vortrefflich auf der Fleischinfus­peptongelatine und verflüssigen dieselbe nicht.“) und führte sogar Infektions­versuche an Mäusen, Meerschweinchen, Hasen, Katzen und Hunden durch.

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Mostly harmless

Zur eigentlichen Verdauung tragen sie aber nicht viel bei, meint Escherich, und bezeichnet die Coli-Bakterien daher als „harmlose Schmarotzer, solange die Funktionen des Darmtraktes ungestört ablaufen“. Heute weiß man, dass E. coli im Darm zumindest Vitamin K2 (Menachinon) produziert und, dass es auch weniger harmlose Vertreter gibt. Erinnert sei an dieser Stelle an die durch entero­hämorrha­gische Escherichia coli ausgelöste EHEC-Epidemie im Mai 2011 in Deutschland, bei der 53 Menschen starben.

Weitaus mehr als über seine Aktivitäten im Darm weiß man über das Bakterium selbst – E. coli gehört zu den am besten untersuchten Organismen überhaupt. Bereits 1997, nach sechs Jahren harter Sequenzier-Arbeit, hatten amerikanische Forscher sein Genom vollständig entschlüsselt (Science, 277(5331):1453-62). Fast eine halbe Million Publikationen listet die PubMed-Datenbank unter den Suchbegriffen „E. coli“ oder „Escherichia coli“. Die ersten stammen aus dem Jahr 1932.

Begonnen hat E. colis Aufstieg in den Olymp der Molekular­biologie ganz bescheiden in einem Krankenhaus der Uni Stanford in Palo Alto, Kalifornien. Dort im Jahre 1922, vor ziemlich genau 100 Jahren, liegt ein Patient mit Diphtherie, der sich auf dem Weg der Besserung befindet. Bei der Diphtherie infiziert das Coryne­bacterium diphtheriae die oberen Atemwege; es kommt unter anderem zu Schluck­beschwerden, Bauchschmerzen und Fieber. Warum ein gewisser Dr. Blair diesem Patienten eine Stuhlprobe entnahm, ist nicht überliefert. Diese Stuhlprobe enthielt jedoch eine wichtige Fracht: den E.-coli-Stamm, der unter dem Namen K-12, bekannt werden sollte.

Editorial

Der Name der Probe

Noch heute rätselt man darüber, wie dieses Namens­kürzel zustande gekommen ist. Handelt es sich um das K wie Kapsel-Antigen von E. coli (woher stammt dann die Zahl 12?) oder war es der Name einer entsprechenden Schublade im Proben-Archiv der Uni Stanford oder gar die Bezeichnung des Kranken­hauszimmers, in dem der Diphtherie-Patient gelegen hatte? Da E. coli keine Kapsel-Antigene produziert, scheidet zumindest Theorie 1 aus. Endgültige Klärung wird es wohl dennoch nicht mehr geben.

Klar ist hingegen das Schicksal des Stamms selbst. Denn zunächst diente er Studenten und Professoren in der Bakterio­logie-Abteilung der Uni Stanford als Lehr- und Lernmaterial. Denn er ließ sich ziemlich einfach kultivieren und replizierte schnell. Perfekt für Uni-Praktika also. Aber auch für die Forschung. „Many of our studies on bacteriophagy and on growth and metabolism have been carried out with this strain, cultures of which we have supplied other laboratories and individuals“, erinnert sich Stanford-Mikrobiologe Charles E. Clifton Jahre später. „[It] is used in our laboratory as the typical coli culture.“ Dass dem nicht so ist, K-12 also alles andere als ein typischer E.-coli-Vertreter, sollte sich für die Molekular­biologie als wahrer Glücksfall herausstellen. Auftritt: Nobelpreisträger Joshua Lederberg und Edward Tatum.

Mehrere Mangelmutanten

Tatum arbeitete in den 1940er-Jahren ebenfalls an der Uni Stanford. Dort interessierte er sich besonders für die Biosynthese von Tryptophan und suchte nach einem geeigneten Untersu­chungsobjekt. Da ausschließlich Pflanzen und Mikroorganismen diese Aminosäure bilden können, fiel seine Wahl auf ein Bakterium. Von Clifton erhielt er K-12. Tatum machte sich nun per Röntgen­bestrahlung daran, das Genom der Bakterien so zu verändern, dass auxotrophe Mutanten entstehen, die bestimmte Wachstums­faktoren wie Aminosäuren nicht mehr selbstständig synthetisieren können (PNAS, 30(12):404-10). Damit sie im Reagenzglas überleben, müssen die Mutanten mit extra zuge­gebenen Nährstoffen „gefüttert“ werden. K-12 hatte mit diesen Versuchen das Reich der experi­mentellen Genetik betreten. Und zog nun auch Joshua Lederberg im Labor von Tatum in den Bann.

Denn der war auf der Suche nach einem leichter zu manipu­lierbaren Modell­organismus. Bisher hatte er sich hauptsächlich mit Neurospora crassa abgegeben, aber irgendwie wollte es ihm nicht gelingen, Mutanten dieses Schimmelpilzes zu erzeugen. Tatum schlug K-12 vor. Zum Glück für beide. „In retrospect, we know how lucky was the choice of strain K-12. With the methods used in 1945, only one E. coli strain in twenty, chosen at random, would have been successfully crossed, owing to the idiosyn­crasies of the F-plasmid, which govern its sexual behaviour“, erinnert sich Lederberg in einem Essay aus dem Jahr 2004.

Bakterien-Sex

K-12 gehört zu den wenigen E.-coli-Stämmen, die über eine ganz besondere Fähigkeit verfügen: die Konjugation. Das heißt, sie können über den sogenannten F-Pilus genetisches Material mit anderen Bakterien austauschen. Und genau diese genetische Rekombination wollte Lederberg auch im Experiment beobachten. Dabei kamen wieder die auxotrophen Mutanten ins Spiel. Hält man unterschiedliche Mutanten gemeinsam in derselben Kultur, können sie ihre Mutationen durch Übertragung der korrekten genetischen Information wieder „reparieren“, so Lederbergs Gedanke. Man sähe dann Kolonien in einem Kulturansatz, in dem der Original­mutantenstamm eigentlich nicht würde wachsen können.

In einem Kulturgefäß vermischte er also eine Mutante, die die Aminosäuren Threonin und Leucin sowie das Vitamin Thiamin zum Wachsen benötigte, mit einer Mutante, die auf das Vitamin Biotin und die beiden Aminosäuren Phenylalanin und Cystein im Nährmedium angewiesen ist. Von einer Milliarde Zellen, die Lederberg in von diesen Nährstoffen befreitem Medium wachsen ließ, erntete er ganze 100 Kolonien. Diese mussten genetische Informationen ausgetauscht haben, um zu überleben. Der Beweis war erbracht und machte Tatum und Lederberg einige Jahre später zu stolzen Nobelpreis­trägern. Sie hatten erstmalig die genetische Rekombination bei Bakterien nachgewiesen (J Bacteriol, 53(6):673-84).

K-12 goes Biotech

Damit hatte sich K-12 als wertvolles Forschungs­werkzeug für die Bakterien-Genetik empfohlen. Anfang der 1970er-Jahre verhalf K-12-Abkömmling W1485 einer aufstrebenden Wissenschafts­disziplin zu weiteren ungeahnten Möglichkeiten. Stanley Cohen, Herbert Boyer und Kollegen war es gelungen, zunächst bakterielle Plasmide in vitro herzustellen (PNAS, 70(11):3240-4) und, in einer weiteren Arbeit, Xenopus-DNA-Fragmente in E. coli einzuschleusen (PNAS, 71(5):1743-7). Der Grundstein für die moderne Biotechnologie war gelegt.

Mittlerweile gibt es tausende Mutanten­stämme, nicht nur von K-12. Einer der heutzutage am häufigsten im Labor verwendete Stämme MG1655 ist jedoch ein direkter Nachfahre von Lederbergs K-12-Sammlung. Dieser hat allerdings seine ehemalige Glücks-Eigenschaft inzwischen verloren. Nach einer Kultivierung mit dem Farbstoff Acridin-Orange kann er keinen F-Pilus mehr bilden und genetisches Material austauschen.

Kathleen Gransalke

Bild: Peter Highton, Uni Edinburgh (gemeinfrei)


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Letzte Änderungen: 31.03.2022