„Sie haben die Verpflichtung, mehr zu tun“

(08.03.2022) Die ukrainische Molekular­biologin Halyna Shcherbata an der MH Hannover sprach mit uns über Hilfsbemühungen für Menschen in der Ukraine.
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Editorial

Wie kann die deutsche Wissenschafts­gemeinschaft ukrainischen und russischen Wissenschaftlern und Wissenschaft­lerinnen helfen?
Shcherbata: Diese Frage ist unangemessen. Ukrainische Wissenschaftler sitzen gerade unter Tage und hören Raketen über ihre Köpfe fliegen. Universitäten werden bombardiert, Familien auseinander­gerissen und Kinder getötet. Das ist die gegenwärtige Wissenschaft in der Ukraine. Russische Wissenschaftler haben dagegen Probleme, da ihre Kreditkarten nicht funktionieren. Und Sie fragen nach Hilfe für russische Wissenschaftler? Die aktuelle Situation ist auch deren Schuld. Sie fühlen sich vielleicht nicht verantwortlich, sie unterschreiben vielleicht eine Petition gegen den Krieg, aber sie hören sich die Lügen im russischen Staats­fernsehen an. Sie sind Teil einer gehirn­gewaschenen Nation. Wir werden russischen Wissenschaftlern helfen sich zu erholen, irgendwann in Monaten oder Jahren. Aber erst einmal müssen sie mehr tun. Sie müssen als fortschritt­lichster Teil der Gesellschaft auf der Straße gegen den Krieg protestieren.

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Sprechen wir also zuerst über die Wissenschaftler der Ukraine. Was können wir tun?
Shcherbata: Ich habe befreundete Wissenschaftler in der Ukraine am Telefon gefragt, wie wir helfen können. Bis auf den Letzten sagten alle dasselbe: Schutzwesten, Munition, Aderklemmen, Druck­verbände, Erste-Hilfe-Sets, Medikamente, Antibiotika, Schmerzmittel, Flugverbotszone. Das ist jetzt das Wichtigste. Alles andere ist nur Gerede.

Welche Ihnen bekannten Initiativen sammeln Arzneimittel und medizinische Hilfsmittel ein?
Shcherbata: Der Ukrainische Verein in Niedersachsen und der Verein Herz für die Ukraine bitten um Spenden für medizinische Hilfe und den Einkauf medizinischer Ausrüstung. Auch die Medizinische Hochschule Hannover versucht zu helfen, indem sie Medikamente sammelt. [Hier ist eine Liste aller benötigten Utensilien und der Ansprech­partner vor Ort].

Wie gelangen die Hilfsgüter in die Ukraine?
Shcherbata: Amazon hilft uns, nimmt alle Sachspenden entgegen und bringt sie zur polnisch-ukrainischen Grenze, wo freiwillige Helfer sie in ukrainische Autos packen und an die Front bringen. Die Deutsch-Ukrainische Akademische Gesellschaft und die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche organisieren einen Großteil der Logistik in all dem.

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Was können deutsche Wissenschaftler noch tun? Sie selbst bieten auf der EMBO-Seite „Solidarity with Ukraine“ ukrainischen Wissen­schaftlern Plätze in Ihrem Labor an …
Shcherbata: Meines Wissens bieten EMBO und die Volkswagen­Stiftung bereits Stipendien für Kurzzeit-Aufenthalte ukrainischer Wissenschaftler an. Ihre Bewerbungs­verfahren sind unkompliziert und auf schnelle Hilfe ausgerichtet. Aber das ist gegenwärtig unwichtig. Denn ukrainische Wissenschaftler denken momentan nicht an Forschung. Meine eigene Schwester ist Professorin. Ihre Studenten sind an der Front und verteidigen Europa. Greifen russische Truppen weiterhin Atomkraft­werke an, werden wir den Krieg auch in Deutschland spüren. Der Wind muss nur westwärts wehen.

Sind Ihnen ukrainische Wissenschaftler bekannt, die sich bereits in Deutschland befinden?
Shcherbata: Nein, niemand will kommen, weder meine ukrainischen Koopera­tionspartner noch meine Familie in Lwiw in der Westukraine. Sie helfen lieber dabei, hundert­tausende Flüchtlinge zu versorgen, die auf dem Weg nach Westen dort durchkommen.

Wie stellen Sie sich die Zukunft der Wissenschaften in der Ukraine vor?
Shcherbata: Natürlich wird es Jahre dauern, das Land aufzubauen, zumal viele Wissenschaftler nicht nach Hause zurückkehren wollen werden. Das Wichtigste nach dem Krieg werden keine hochkom­plexen wissen­schaftlichen Anwendungen sein. Die Ukraine ist der Brotkorb Europas. Den Ausfall der diesjährigen Ernte wird auch die Europäische Union spüren. Wir müssen also zuallererst die Landwirtschaft aufbauen. Außerdem sind natürlich Lehre und der kostenlose Zugang zu Bildung Schlüsselfaktoren.

Zurück zu russischen Wissen­schaftlern. Bereits am 25. Februar 2022 hat die deutsche Allianz der Wissenschafts­organisationen alle Kooperationen mit Russland eingefroren. Ist das der richtige Schritt?
Shcherbata: Ganz klar ja. Russische Wissenschaftler sollten ausreichend Geld von ihrer Regierung erhalten, um ihre Arbeiten fortzusetzen. Im Zuge des Brexits stellte die EU auch ihre Fördergelder ein und die britische Regierung muss die Lücken füllen. Das Gleiche gilt für den Kreml. Warum sollte Europa Wissenschaftlern Geld geben, die sich die Lügen ihrer Regierung über die europäische Gesellschaft anhören? Die Invasion der Ukraine ist auch ein Angriff auf westliche Werte wie Demokratie, Menschenrechte und die Freiheit.

Mehr als 7.000 russische Wissenschaftler – darunter 85 Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften – haben ihre Regierung in einem offenen Brief verurteilt …
Shcherbata: Ja, aber gehen sie auf die Straße? Sie unterschreiben einen Brief. Das ist einfach.

Nach Angaben unabhängiger Überwachungs­gruppen wurden bereits 7.500 Menschen bei Anti-Kriegsprotesten inhaftiert. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft ...
Shcherbata: Niemand von ihnen wird sein Leben verlieren. Sie werden für eine Nacht ins Gefängnis gehen. Wer wenn nicht Wissenschaftler und ihre Studenten sollen denn die Wahrheit sagen? Neben den Sanktionen für russische Unternehmen und Einzelpersonen der russischen Eliten sollte auch die russische Wissenschaft boykottiert werden. Denn die Wissen­schaftler haben die Verpflichtung, mehr zu tun.

Ist das nicht leicht gesagt, wenn wissen­schaftliche Einrichtungen unter staatlicher Überwachung stehen?
Shcherbata: Meine eigene Doktorarbeit habe ich teilweise in Moskau verfasst, nachdem die Ukraine 1991 unabhängig geworden war. Meine russischen Kollegen – wohlgemerkt Wissenschaftler, also der aufgeklärte Teil der Bevölkerung – waren überrascht, dass es eine eigene ukrainische Sprache gibt. Sie fragten mich, warum ich über die Unabhängigkeit der Ukraine so glücklich sei. Sie wussten nicht, dass unsere Sprache, unsere Lieder, unsere Religion, unsere Kultur vom russischen Zentralstaat unterdrückt wurde. Das war für mich ein Augenöffner.

Der auch dreißig Jahre später noch gültig ist?
Shcherbata: Ja, auch heutzutage werde ich von russischen Kollegen noch gefragt, ob Ukrainer ihre eigene Sprache haben und warum sie nicht zur russischen Föderation gehören wollen.

Sie glauben, die Mehrheit der russischen Wissenschaftler unterstützt die russische Regierung?
Shcherbata: Ich glaube nicht, dass sie Krieg unterstützen. Aber sie glauben, dass es für die Ukraine besser wäre, ein Teil Russlands zu sein, dass es unsere Schuld ist, wenn wir unser Land verteidigen. Würden wir kapitulieren, gäbe es schließlich kein Blut und alle wären glücklich. Eine Ausweitung des russischen Einflusses unterstützen die meisten, glaube ich. Die Propaganda des Kremls macht es für sie schwierig, die echte Welt zu sehen, um sich zu überlegen, was gerade vor sich geht.

Wenn die internationale Wissenschafts­gemeinschaft alle Verbindungen nach Russland unterbricht, würde sie dieser russischen Isolations­politik nicht in die Hände spielen?
Shcherbata: Wir müssen komplett aufhören, Stipendien und Gelder zu zahlen. Aber gleichzeitig müssen wir russischen Wissen­schaftlern sagen, dass sie für den Krieg mitverant­wortlich sind, indem sie zu wenig tun. Es liegt in ihren Händen, junge Menschen zu erziehen und zu bilden. Andernfalls wird diese junge Generation in einer Welt der Lüge und Tyrannei und Angst leben. Damit sie „sehen“ können, müssen wir alle Werkzeuge zur Verfügung stellen. Die russische Politik lässt sich nur von innen heraus ändern. Wir müssen unsere russischen Kollegen also weiterhin mit Information unterstützen und dafür sorgen, dass Informations­kanäle und Internet­verbindungen offen bleiben – notfalls im Untergrund. Die russische Zensur von Informa­tionsmedien muss gebrochen werden, irgendwie.

Was sollte die internationale Wissenschafts­gemeinschaft aus all dem lernen?
Shcherbata: Gegen totalitäre Regime müssen vor allem Wissenschaftler ihren Mund aufmachen. Sobald auch sie einer Gehirnwäsche unterzogen sind, ist es zu spät, weil die ganze Logik des Kremls darin besteht, zu verhindern, dass die Menschen die Wahrheit kennen. Wir als Wissenschaftler müssen Meinungsfreiheit und Informations­austausch schaffen und sichern.

Lassen Sie mich aber bitte an dieser Stelle zum Schluss noch eines sagen: Ich danke der ukrainischen Armee und dem ukrainischen Volk für die Verteidigung der Ukraine und der gesamten freien Welt. Ich danke auch allen Ländern, Regierungen, Unternehmen und insbesondere allen Menschen guten Willens, die der Ukraine beistehen. Wir wissen Ihre Hilfe sehr zu schätzen, gemeinsam werden wir siegen!

Die Fragen stellte Henrik Müller

Halyna Shcherbata, Leiterin der Arbeitsgruppe für Genexpression und Signal­übertragung an der Medizinischen Hochschule Hannover, promovierte 1996 am Kyjiwer Institut für Pflanzen­physiologie und Genetik und forschte an der Universität Lwiw, bevor sie 2008 als Max-Planck-Forschungs­gruppenleiter nach Göttingen kam.

Bild: MH Hannover/Irene Böttcher-Gajewski


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Letzte Änderungen: 08.03.2022