„Wir arbeiten von
Fall zu Fall“

(03.03.2022) Auch die Biotech-Welt muss sich mit dem Krieg in der Ukraine auseinandersetzen. Denn viele klinische Studien werden in Osteuropa durchgeführt.
editorial_bild

Editorial

Was in der Ukraine gerade passiert, ist nicht in Worte zu fassen. Entsprechend hart sind die Reaktionen der westlichen Welt auf den Angriffskrieg von Wladimir Putin. Viele Verbindungen werden aktuell gekappt, Koope­rationen aufgekündigt, das Land wird isoliert.

Auch die Biotech-Welt schließt sich den Sanktionen an. In einem kürzlich, auch auf Deutsch veröffentlichten „Aufruf an die Business Community“ schreiben unter anderem Ovid-Therapeutics-CEO Jeremy Levin und John Maraganore, Mitgründer und Chef des RNAi-Spezialisten und Göttinger Max-Planck-Institut-Spin-offs Alnylam Pharma­ceuticals: „Wir als führende Unternehmer in der Biowissenschaft sind entsetzt über den unprovozierten Krieg, den Russland gegen seinen Nachbarn Ukraine begonnen hat. […] Wir müssen handeln, um unsere Abscheu vor den Aktionen Russlands deutlich zu machen. Dafür ist die sofortige und vollständige wirtschaftliche Abkopplung von Russland erforderlich. Daher fordern wir alle Mitglieder unserer Branche und anderer Branchen auf, jegliche geschäftliche Beteiligung in Russland einzustellen.“

Editorial

Keine Investments, keine Kooperationen

Die Unterzeichner verpflichten sich, nicht in russische Firmen zu investieren, und umgedreht sollen auch keine Investitionen aus russischen Fonds angenommen werden. Jegliche Kooperations­vereinbarungen werden beendet. Solange, bis „Frieden und Demokratie in einer souveränen Ukraine wieder­hergestellt sind“. Unterzeichnet haben den Aufruf Vertreter von mehr als 100 vor allem US-amerikanischen Biotech-Unternehmen, darunter Vir Biotechnologies (Entwickler des COVID-19-Antikörpers Sotrovimab), Biogen (Entwickler des stark diskutierten Alzheimer-Präparats Aducanumab) und auch die deutsch-amerikanischen Psychedelika-Experten von atai life sciences (siehe dazu auch „Auf dem Therapie-Trip“). Pharma-Schwergewichte wie Roche oder Johnson&Johnson fehlen jedoch.

Was keine große Überraschung ist, denn Russland, die Ukraine und andere osteuropäische Länder sind für viele Pharma-Firmen unter anderem ein wichtiger Partner bei klinischen Studien. Denn dort ist aufgrund der medizinischen Infrastruktur die Rekru­tierung von Patienten einfacher und mit weniger ausufernder Bürokratie verbunden. Mehr als 600 aktive Studien listet die Datenbank clinicaltrials.gov auf, die zum Teil in der Ukraine durchgeführt werden sollen.

So testet der britische Pharma-Entwickler GlaxoSmithKline seinen Wirkstoff-Kandidaten Otilimab zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis in einer Phase-3-Studie beispielsweise an 24 ukrainischen Einrichtungen. Otilimab ist ein monoklonaler Antikörper, der spezifisch den Granulozyten-Monozyten-Kolonien-stimulierenden Faktor (GM-CSF) bindet und somit dafür sorgt, dass dieses Cytokin keine autoimmunen Entzündungs­reaktionen mehr auslösen kann. Entwickelt wurde der Wirkstoff im bayrischen Planegg bei MorphoSys.

Editorial

Morphosys in Kyjiw

Morphosys selbst führt derzeit ebenfalls zwei größere klinische Studien zum Teil in der Ukraine durch. Die IGNAZ-Studie der Phase 2 soll klären, ob der firmeneigene anti-CD38-Antikörper Felzartamab Patienten mit IgA-Nephropathie, einer Autoimmun­erkrankung der Nieren, helfen kann. Der monoklonale Antikörper bindet die Hauptquelle von Auto­antikörpern, CD38-positive Plasmazellen, und zerstört sie. Unter anderem am State Institution of Nephrology in Kyjiw sollten die Studien stattfinden.

Auch der im letzten Jahr zugelassene monoklonale anti-CD19-Antikörper Tafasitamab (siehe „Wirkstoff des Monats“) wird momentan in Phase 3 an über 300 medizinischen Einrichtungen auf seine Wirksamkeit in Kombination mit Lenalidomid und Chemotherapie bei diffusem, großzelligem B-Zell-Lymphom geprüft. Elf der Standorte liegen in der Ukraine.

Ebenfalls in der Ukraine aktiv ist Pharma-Gigant Bayer. Unter anderem in Kyjiw, Ivano und Saporischschja in der Südukraine sollte Elinzanetant auf den klinischen Prüfstein. Der NK1- und NK3-Rezeptor-Antagonist sorgt dafür, dass der natürliche Ligand, Neurokinin A, nicht mehr an die Rezeptoren binden kann. Relevant ist die Studie vor allem für Frauen nach der Menopause, die unter Hitzewallungen leiden.

Sicherheit geht vor

Von Leverkusen nach Darmstadt, denn auch Merck ist vom Krieg in der Ukraine betroffen. „Wir haben in insgesamt 13 Studien Patienten entweder in der Ukraine oder in Russland oder in beiden Ländern aufgenommen. Wir verfolgen die Situation genau und arbeiten von Fall zu Fall, um die Sicherheit und das Wohlergehen der Studien­teilnehmer zu gewährleisten. Alle unsere Studien werden in mehreren Ländern durchgeführt“, teilt uns Gangolf Schrimpf aus der Presse­abteilung des Unternehmens mit.

Unter anderem plant das Unternehmen eine Phase-3-Studie mit Evobrutinib an über 200 Standorten, unter anderem in Tschernihiw im Norden des Landes und in Charkiw, dem Wissenschaftszentrum des Landes. Mehr als 40 Unis und Hochschulen gibt es in der derzeit heftig umkämpften Stadt (oder gab). Ganz in der Nähe, in Iwaniwka, kam 1845 übrigens der Begründer der modernen Immunologie und Nobel­preisträger, Ilja Metschnikow, auf die Welt (mehr über ihn gibt's bei RiffReporter). Passenderweise beeinflusst auch Evobrutinib das Immunsystem. Es hemmt die Bruton­tyrosinkinase, die bei der Entwicklung und den Aktivitäten von B-Zellen und Makrophagen wichtig ist. Letztlich soll der Kinase-Hemmer verhindern, dass Antikörper und Cytokine freigesetzt werden. Nützlich wäre das, so Merck, bei Patienten mit Multipler Sklerose.

Unerträgliche Bilder

Ebenfalls auf dem Prüfstand, allerdings erst ganz am Anfang, befindet sich eine Substanz namens M5049 oder Enpatoran. Dieser neuartige Immunmodulator hemmt die Toll-like-Rezeptoren 7 und 8. Besonders bei systemischem und kutanem Lupus erythematodes sind diese beiden Rezeptoren überaktiviert. Patienten für diese Phase-1-Studie sollten auch an einem Kyjiwer Medical Center rekrutiert werden. Angesichts der Bilder, die uns aus der Ukraine erreichen, ist daran momentan nicht zu denken.

„Für uns bei Merck ist es unerträglich, zu sehen, was in der Ukraine geschieht. Wir verurteilen jegliche Form von Gewalt. Als Unternehmen setzen wir uns für den menschlichen Fortschritt ein. Deshalb werden die Gesundheit und das Wohlergehen von Menschen immer im Mittelpunkt unseres Handelns stehen. Wir stehen an der Seite der Weltgemeinschaft und fordern Maßnahmen, um eine friedliche Koexistenz in der Region wieder­herzustellen. Unsere Gedanken sind bei allen, die von diesem Krieg betroffen sind“, schreibt Merck in einem aktuellen Statement. „Zur Unterstützung der humanitären Hilfe in der Ukraine wird Merck zwei Millionen Euro an das Deutsche Rote Kreuz spenden. Hierzu trägt die Familie Merck eine Million Euro bei.“

Kathleen Gransalke

Bild: Pixabay/Cylus_


Weitere Artikel aus der Biotech-Welt


- Handliches Stoffwechsel-„Profiling“

Im Fingerschweiß verstecken sich hunderte Biomarker, die sich für die Diagnostik und ein potentielles Start-up eignen, sagen Wiener Forscher.

- Entgegen dem Strom

Statt von der Uni in die Industrie zu wechseln, nahm Biologe Martin Sieber den umgekehrten Weg und ist nun Transferprofessor an der Hochschule.

- Bye-bye, Martinsried

Mit Exosomen Krankheiten wie Krebs frühzeitig diagnostizieren – das machen Exosome Diagnostics. Leider nicht mehr von Bayern aus.

 



Letzte Änderungen: 03.03.2022