Immunsystem in Alarmbereitschaft

(26.10.2021) Warum verlaufen SARS-CoV-2-Infekti­onen bei Kindern meist milder als bei Erwachsenen. Charité-Immunologin Irina Lehmann hat eine Erklärung.
editorial_bild

Editorial

Seit Beginn der Corona-Pandemie diskutieren wir darüber, ob und wie schwer Kinder erkranken. Was ist denn nun der Sachstand?
Irina Lehmann: Bei COVID-19 haben unsere Kinderärzte beobachtet, dass die aller­meisten Kinder nur über wenige Tage mit mildem Fieber sowie typischen Erkältungs­symptomen erkranken – wobei nur etwa die Hälfte der infizierten Kinder überhaupt Symptome zeigt. Das sind also deutlich schwächere Verläufe als bei Erwachsenen.

Was weiß man bisher über die Gründe für dieses Phänomen?
Lehmann: Um das heraus­zufinden, haben wir Einzelzellen analysiert, und zwar von 42 Kindern und 44 Erwachsenen, die jeweils zur Hälfte infiziert beziehungs­weise gesund waren. Dafür haben wir von allen Probanden Nasen­abstriche genommen, davon die Zellen isoliert und das Transkriptom jeder einzelnen Zelle untersucht. Somit konnten wir für jeden Zelltyp feststellen, welche Gene an- oder ausgeschaltet sind.

Editorial

Fanden Sie Unterschiede?
Lehmann: Die spannendsten Ergebnisse haben wir bei den gesunden Kindern gesehen. Bei diesen sitzen schon alle Immunzellen in der Nasen­schleimhaut, also dem primären Infektionsort. Bei Erwachsenen fanden wir in den Nasen­abstrichen fast nur Epithelzellen, bei Kindern etwa genauso viele Immun- wie Epithel­zellen. Das kindliche Immun­system in der Nase ist also schon vor einer SARS-CoV-2-Infektion aktiviert. Außerdem sind auch die vom Virus infizier­baren Epithel­zellen in der Nase schon in einer Habacht­stellung, sie haben eine voraktivierte antivirale Antwort.

Was bedeutet das?
Lehmann: In den Epithel­zellen gesunder Kinder sind im Gegensatz zu denen erwachsener Personen Gene stark exprimiert, die für bestimmte Rezeptoren codieren. Die sogenannten „Pattern Recognition Receptors“, auf Deutsch Muster­erkennungs­rezeptoren, erkennen virale RNA. Wenn das Virus in die Zelle gelangt, wird es sofort erkannt, und es folgt schnell eine Immunantwort.

Eine Immunantwort kann also direkt nach dem Erstkontakt beginnen. In Ihrer Publikation in Nature Biotechnology nennen Sie die Rezeptoren MDA5, RIG-I und LGP2 (doi: 10.1038/s41587-021-01037-9). Dies sind allesamt Moleküle, die RNA detektieren. Was passiert nach der Erkennung einer viralen RNA?
Lehmann: Es wird eine Signal­kaskade ausgelöst, an deren Ende eine Interferon-Antwort steht, die das Virus eliminiert. Interes­santerweise waren bei Kindern auch ohne SARS-CoV-2-Kontakt in den Nasen­epithelzellen bereits eine Vielzahl sogenannter „Interferon-stimulated Genes“ angeschaltet, also Gene, die von Interferon aktiviert werden.

Editorial

Sie schreiben, dass bei gesunden Kindern diese Interferon-stimulated Genes, kurz ISGs, stärker aktiviert seien als bei infizierten Erwachsenen. Wie groß sind die Unterschiede?
Lehmann: Sehr deutlich. Wir fanden bei den gesunden Kindern große Cluster von ISGs massiv exprimiert, die selbst bei infizierten Erwachsenen nur schwach angeschaltet waren. Alles in allem zeigten die Einzelzell-Analysen, dass Kinder nach Infektion im Allgemeinen sehr schnell eine effiziente Immun­reaktion gegen SARS-CoV-2 entwickeln und damit besser gegen das Virus geschützt sind als Erwachsene.

Sind Kinder somit auch gegen andere RNA-Viren besser geschützt als Erwachsene?
Lehmann: Das kann man so nicht genera­lisieren. Viren haben unter­schiedliche sogenannte Escape-Mechanismen, mit denen sie sich vor der Abwehr­reaktion des Wirts schützen, den sie infizieren. SARS-CoV-2 ist ein sich extrem schnell vermehrendes RNA-Virus, das gleichzeitig sehr empfindlich gegenüber Interferon ist – viel empfindlicher als zum Beispiel Influenza. Für eine schnelle Immun­antwort gegen das Virus müssen die Muster­erkennungs­rezeptoren aktiviert und eine Interferon-Antwort eingeleitet werden. Infiziert SARS-CoV-2 eine Zelle, überrumpelt es normalerweise dieses Frühwarn­system, wodurch die Interferon-Antwort zumeist eher schwach ausfällt und das Virus sich massiv in der Zelle vermehren kann.
Sehr interessante Ergebnisse gibt es dazu auch aus Zellkultur­experimenten: Infiziert man Lungenzellen mit SARS-CoV-2, schütten die in der Regel nur sehr wenig Interferon aus und das Virus vermehrt sich stark. Gibt man den infizierten Zellen allerdings Interferon von außen zu, vermehrt sich der Erreger viel schlechter. In unserer Publikation zeigen wir zudem, dass auch eine massive Aktivierung des Muster­erkennungs­rezeptors MDA5 die Zellen vor SARS-CoV-2 schützt. Das sind Ergebnisse, die unsere Koopera­tionspartner vom Deutschen Krebs­forschungs­zentrum in Heidelberg beigesteuert haben.
Im Falle von SARS-CoV-2 sind bei Kindern also genau die richtigen Gegen­spieler schon vor der Infektion aktiv, um das Virus sofort bekämpfen zu können. Somit kann der Abwehr­mechanismus des Virus, nämlich die Interferon-Antwort zu verhindern, gar nicht mehr zum Tragen kommen. Wir glauben, dass das auch einer der Haupt­mechanismen ist, der Kinder vor schweren Verläufen einer SARS-CoV-2-Infektion schützt.

Kennt man die Ursache dafür, dass Kinder diese Rezeptoren und die Interferon-Antwort auch ohne aktive Infektion stark exprimieren?
Lehmann: Dazu gibt es verschiedene Thesen. Einerseits wird diskutiert, ob Kinder möglicher­weise eine andere Immun­konstellation haben als Erwachsene, sodass bei ihnen die angeborene oder unspezifische Immun­antwort – zu der auch die Muster­erkennungs­rezeptoren und die Interferon-Antwort gehören – stärker ausgeprägt ist. Im Laufe des Lebens lernt das Immunsystem, und die adaptive, spezifische Immun­antwort wird stärker. Das trägt sicherlich dazu bei, dass Kinder im Allgemeinen sehr schnell eine starke Interferon-Antwort entwickeln können. Wir glauben aber, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Es spielen vermutlich auch andere Faktoren eine Rolle – etwa der häufige Kontakt mit anderen Kindern in der Schule oder im Kindergarten. Wo sich viele Kinder treffen, sind viele Viren in der Luft. Das könnte eine Basis­stimulation bewirken, sodass das kindliche Immunsystem fitter ist als das von Erwachsenen.

Was bedeuten Ihre Ergebnisse nun für die Impfung von Kindern?
Lehmann: Eine Impfung ist auf jeden Fall zu befürworten. Denn infizierte, aber häufig asympto­matische Kinder können das Virus auch unbemerkt weitergeben. Frisch angesteckt haben sie die gleiche Viruslast wie Erwachsene, nur reduziert sich diese schneller. Und wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass auch bei Kindern schwere Verläufe auftreten können.

Können Sie uns ein paar Zahlen nennen? Wie viele infizierte Kinder müssen in einer Klinik behandelt werden?
Lehmann: Nach den durch das European Center of Disease Prevention and Control (ECDC) veröffentlichten Zahlen erkrankt von 5.000 infizierten Kindern eines schwer. Bei anderen respira­torischen Viren wie zum Beispiel dem Respira­torischen Syncytial-Virus (RSV) ist der Anteil an schweren Verläufen insbesondere bei kleinen Kindern aber deutlich höher.

Haben denn sehr junge Kinder, die nicht geimpft werden können, auch schon eine vorgeprägte Immun­antwort?
Lehmann: In unserer gerade veröffentlichten Studie zeigen wir Ergebnisse für Kinder zwischen vier und achtzehn Jahren. Die voraktivierte antivirale Aktivität haben wir bei allen Kindern gesehen, auch den jüngeren. Eine deutliche Alters­abhängigkeit in der Stärke der Aktivierung der Gene für die Muster­erkennungs­rezeptoren war zum Beispiel nicht erkennbar. Allerdings war die Studiengruppe zu klein, um eine solche Aussage generell machen zu können. Einzelzell-Analysen sind leider immer noch so unglaublich teuer, dass es nicht möglich ist, größere Probanden­gruppen mit dieser Methode zu untersuchen.

Das Gespräch führte Karin Hollricher

Irina Lehmann ist Leiterin der Arbeits­gruppe Molekulare Epidemiologie am Berlin Institute of Health (BIH) an der Charité.

Bild: Pixabay/CreativeCursor

Das Interview erschien zuerst in Laborjournal 10-2021.


Weitere Artikel aus dem aktuellen Heft


- Moderne Mikroskopie: Kleiner, bunter, einfallsreicher

Findige Tüftler haben aus der Mikroskopie eine Nanoskopie gemacht. Andere entwickeln Fluoreszenzfarbstoffe und auch zellschonende Bildgebung ist gefragt.

- Aminosäuresequenz rein, Proteinstruktur raus

Die 3D-Struktur eines Proteins aus seiner Aminosäuresequenz vorherzusagen, ist der Heilige Gral der Strukturbiologie. Der Konformationsraum von Polypeptiden ist riesig und das rechnergestützte Durchsuchen aller sterischen Möglichkeiten zu aufwendig. Das Struktur-Vorhersageprogramm AlphaFold2 könnte den Gral gefunden haben.

- Mit Algorithmus zum Traumarbeitgeber

Noch beim Studieren oder schon am Promovieren? Irgendwann stellt sich die Frage nach dem nächsten Karriereschritt. Mit ScieMatch kommt seit kurzem ein neues Tool zum Einsatz, das Studenten und Jobsuchenden hilft, ein passendes Life-Science- oder Biotechnologie-Unternehmen zu finden.

 



Letzte Änderungen: 26.10.2021