Gut beobachtet

(18.10.2021) Ernährungsstudien sind durch mangelnde Reprodu­zierbarkeit in Verruf geraten. Möglicherweise zu Unrecht, wie eine großangelegte Metaanalyse zeigt.
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Editorial

Die Ernährung hat bekanntermaßen großen Einfluss auf unsere Gesundheit und die Entstehung vieler chronischer Erkrankungen. Die interna­tionale Forschungs­initiative Global Burden of Disease lieferte hierzu im Jahr 2019 erschreckende Zahlen: So lässt sich heute weltweit jeder fünfte Todesfall bei Erwachsenen – insgesamt 11 Millionen Todesfälle – auf eine suboptimale Ernäh­rungsweise zurückführen (The Lancet, 393(10184):1958-72). Auch von den insgesamt 255 Millionen Lebensjahren, die der Menschheit jährlich durch Krankheiten verloren gehen, gehen 15 Prozent auf das Konto einer ungesunden Ernährung. Im Vordergrund stehen dabei Herz-Kreislauf-Erkrankungen gefolgt von Krebs und Typ-2-Diabetes. Fast die Hälfte dieser eigentlich vermeidbaren Todesfälle betraf Menschen, die jünger als 70 Jahre waren.

Was aber gehört zu einer gesunden Ernährung und was ist ungesund? Klarheit bringen sollen hier Studien, die untersuchen, wie sich bestimmte Ernährungsstile, einzelne Nahrungsmittel oder die Einnahme von Nahrungs­ergänzungsmitteln auf das Auftreten von Krankheiten oder andere Gesundheits­parameter auswirken. Um den Ruf derartiger Ernährungs­studien steht es allerdings zurzeit nicht zum Besten. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass es sich bei ihnen in den meisten Fällen nicht um kontrollierte klinische Studien handelt, wie sie in der medizinischen Forschung als Goldstandard gelten.

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Beobachten statt eingreifen

Kontrollierte randomisierte klinische Studien (RCTs) ermöglichen es gezielt, die Auswirkungen einer Intervention – also beispielsweise die Gabe eines bestimmten Medikaments oder einer anderen Behandlung – zu untersuchen, während andere Einflüsse weitgehend ausgeschlossen sind. Die Studien­teilnehmer werden dabei nach dem Zufallsprinzip in zwei möglichst ähnliche Gruppen aufgeteilt, von denen nur eine die Intervention erhält, während die andere ein Scheinpräparat oder eine Scheinbehandlung (Placebo) bekommt. Optimalerweise kennen weder die Studien­teilnehmer selbst, noch die Personen, die die Ergebnisse auswerten, die Gruppeneinteilung. Durch diese Verblindung wird gewährleistet, dass keine Vorurteile oder Erwartungen Einfluss auf die Studien­ergebnisse haben.

In den Ernährungs­wissenschaften sind derartige klinische Studien jedoch nur schwer durchführbar. Da die meisten Ernährungs­weisen nur langfristig Einfluss auf die Gesundheit haben, müssten Studien­teilnehmer ihre Ernährung über Monate oder Jahre umstellen, damit man einen Effekt sehen kann. Abgesehen davon, dass die wenigsten Menschen dazu bereit sein werden, wären solche Studien auch extrem aufwendig und teuer. Aus diesem Grund setzen die Ernährungs­wissenschaften – und hier im Besonderen die Ernährungs­epidemiologie – eher auf Beobachtungs- bzw. Kohorten­studien. Bei diesen findet keine Intervention statt; stattdessen werden bestimmte Gruppen von Menschen (die Kohorte) über einen längeren Zeitraum beobachtet und darüber befragt, was sie im Beobachtungs­zeitraum zu sich genommen haben. Die Vorteile sind klar: Die Studien­teilnehmer müssen keine Einschränkungen oder Umstellungen auf sich nehmen. Gleichzeitig lassen sich große Gruppen von Menschen beobachten und das über einen langen Zeitraum. Auf diese Weise können mit abgesicherter Statistik Korrelationen zwischen bestimmten Krankheiten und Ernährungs­gewohnheiten aufgedeckt werden.

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Verfälschende Faktoren

Ob diese Korrelationen jedoch auch Kausalitäten widerspiegeln, bleibt oft unklar. Da die Kohorten im Unterschied zu den Teilnehmern einer klinischen Studie oft sehr heterogen zusammen­gesetzt sind, können andere Faktoren, die mit den Ernährungs­gewohnheiten korrelieren – wie das Bewegungs­muster oder der sozioöko­nomische Status – die Ergebnisse verfälschen. Auch sind Kohorten­studien davon abhängig, dass die Teilnehmer die Fragen wahrheitsgemäß beantworten, und eine Verblindung fehlt meist auch. Zum schlechten Ruf der Ernährungs­studien hat zudem beigetragen, dass die Presse Ergebnisse gerne aufnimmt und oft überzogen wiedergibt. Zu den „Blüten“, die diese Praxis treiben kann, hat sich vor zwei Jahren der Wissenschaftsnarr Ulrich Dirnagl für Laborjournal geäußert („Ist das Wissenschaft, oder kann das weg?“ in LJ 12/2019).

Kein Wunder, dass immer wieder versucht wurde, Ergebnisse von Beobachtungs­studien mit kontrollierten klinischen Studien abzusichern. Da dies oft scheiterte, verfestigte sich die Ansicht, dass Ernährungs­studien oft keinen wissen­schaftlichen Wert haben. Allerdings ist dieser schlechte Ruf möglicherweise unbegründet, wie eine aktuelle Metaanalyse im British Medical Journal belegt (BMJ, 374:n1864). Die Autoren um Lukas Schwingshackl vom Institut für Evidenz in der Medizin am Uniklinikum Freiburg, das gleichzeitig ein Partnerinstitut von Cochrane Deutschland ist, haben darin untersucht, inwieweit sich die Ergebnisse aus Kohorten­studien und klinischen Studien zur gleichen Fragestellung voneinander unterscheiden. Das Ergebnis ist überraschend: Sofern Fragestellung und Studien­population sehr ähnlich sind, gilt das auch für die Ergebnisse.

Ähnliches Studiendesign = ähnliche Ergebnisse

Bei ihrer Analyse stützten sich die Autoren auf 33 systematische Cochrane-Reviews, die insgesamt 950 randomisierte klinische Studien umfassten, sowie 750 Kohorten­studien aus der Datenbank MEDLINE. Insgesamt gelang es, für 97 verschiedene Frage­stellungen Paare aus klinischen Studien und Kohorten­studien zu finden. Diese deckten eine ganze Bandbreite von Interventionen ab, die von bestimmten Ernährungs­weisen wie der Mittelmeer-Diät bis zur Gabe von Nahrungs­ergänzungsmitteln reichten. Als Endpunkte, also mögliche Auswirkung der Intervention bzw. Exposition, wurden unter anderem das Auftreten von Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs, Augen­krankheiten, neuro­degenerativen Krankheiten und Typ-2-Diabetes, die Gesamt­mortalität, der Einfluss auf Schwangerschaft und Knochen­gesundheit dokumentiert. „Im ersten Schritt haben wir für jede Fragestellung geschaut, wie ähnlich sich die jeweiligen Kohorten­studien und klinischen Studien hinsichtlich Population, der Intervention/Exposition, der Vergleichs­präparate und des Endpunkts sind“, erklärt Erstautor Schwingshackl. „Dabei gab es die Kategorien ‚mehr oder weniger identisch‘, ‚ähnlich, aber nicht identisch‘ und ‚weitestgehend ähnlich‘. Das jeweils schlechteste Rating wurde dann als Gesamtrating vergeben.“

Von den 97 Fragestellungen zeigten 59 Prozent beim Vergleich zwischen Beobachtungs- und Interven­tionsstudie ähnliche, aber nicht identische Ergebnisse. Bei den restlichen 41 Prozent der Frage­stellungen waren die Ergebnisse immerhin noch weitestgehend ähnlich. Die größten Unterschiede gab es bei Fragestellungen, die sich der Wirkung von Nahrungs­ergänzungs­mitteln wie Vitamin D oder Mineralstoffen widmeten. Einer der Gründe hierfür könnte sein, dass in einer klinischen Studie Menschen eine definierte Menge des entsprechenden Präparats einnehmen, während in einer Beobach­tungsstudie beispielsweise häufig der Vitamin-D-Status im Blut gemessen wurde.

Wertvoll und spannend

Wenn klinische Studien Ergebnisse von Kohorten­studien nicht reproduzieren können, liegt das laut Schwingshackl vor allem daran, dass sich Studien­population, Intervention oder Endpunkte oft stark unterscheiden: „Je größer die Unterschiede bei diesen Parametern, desto größer sind auch die Unterschiede bei den Ergebnissen.“ Die eigenen Ergebnisse sieht Schwingshackl auch durch andere Analysen bestätigt: „Es gibt eine schöne meta-epidemiologische Arbeit aus dem Medizinbereich, die auch keine größeren Unterschiede zwischen RCTs und Beobach­tungsstudien beobachten konnte“ (Cochrane Database Syst Rev, 2014(4):MR000034).

Als Nächstes möchten die Wissenschaftler ihre Ergebnisse aber noch anhand weiterer Studien reproduzieren. So gibt es verschiedene Limitierungen ihrer Metaanalyse, etwa dass die Kohorten­studien und die klinischen Studien aus unter­schiedlichen Quellen – Cochrane und MEDLINE – stammten, aber auch, dass für einige Frage­stellungen ganz einfach noch gar keine klinischen Studien existieren. Dennoch zeige ihre meta-epidemiologische Arbeit, so Schwingshackl, dass die Ergebnisse zwischen RCTs und Kohorten anders als oft behauptet im Durchschnitt doch ähnlicher seien als gedacht. „Bis dato wurde dies nie systematisch und transparent untersucht. Deshalb sind unsere Ergebnisse sehr spannend und wertvoll.“

Larissa Tetsch

Bild: Pixabay/jplenio


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Letzte Änderungen: 18.10.2021