Forschung für die Sinne
(04.10.2021) David Julius und Ardem Patapoutian gewinnen den diesjährigen Medizin-Nobelpreis für die Entdeckung von Temperatur- und Mechanosensoren.
Sind die von Sinnen? – werden wohl nicht wenige gedacht haben, als das Nobelkomitee verkündete, dass der diesjährige Medizin-Nobelpreis NICHT an Katalin Karikó und Drew Weissman für die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen geht. Tatsächlich spielen „Sinne“ eine wichtige Rolle bei den diesjährigen Preisträgern. David Julius von der University of California in San Francisco und Ardem Patapoutian vom ebenfalls in Kalifornien beheimateten Scripps-Research-Institut werden für die Entdeckung von Ionenkanal-Rezeptoren geehrt, die unsere Sinne für Kälte und Wärme sowie Berührung schärfen.
„Our group is interested in understanding how sensory systems enable us to perceive our world“, so fasst David Julius seine Forschung auf seiner Webseite zusammen. Anfang der 1990er Jahre war er noch an Serotonin-Rezeptoren interessiert, die es sowohl in der GPCR- als auch in der Ionenkanal-Variante (5-HT3) gibt. Ende der 90er schwenkte er dann zu den Sinnesrezeptoren um und konnte 1997 gleich einen durchschlagenden Erfolg verbuchen. Ihm und seinem Team gelang es, den „Capsaicin-Rezeptor“ zu identifizieren (Nature, 389(6653):816-24).
Mit Chili ins Zentralnervensystem
Capsaicin – besonders viel gibt’s ja bekanntlich in scharfen Chilis – löst einen brennenden Schmerz aus und ist damit gut geeignet, wie Julius dachte, mehr über das Schmerzempfinden im Allgemeinen zu lernen. Mithilfe einer „expression cloning strategy based on calcium influx“ fand der frisch gebackene Nobelpreisträger den zuständigen Rezeptor in sensorischen Neuronen des peripheren Nervensystems. Es handelte sich um einen nicht-selektiven Kationen-Kanal, der früher unter dem Namen Vanilloid-Rezeptor bekannt war. Heute heißt er etwas sperriger: Transienter Rezeptor-Potential-Kationenkanal der Unterfamilie V, Subtyp 1 (kurz TRPV1). TRPV1 wird nicht nur von Capsaicin aktiviert, sondern auch von Temperaturen ab etwa 40 °C. Der aktivierte Kanal lässt Calcium-Ionen passieren, dadurch kommt es zum Aktionspotential und zur Signalweitergabe des Reizes ins Zentralnervensystem.
Neben Capsaicin lösen auch andere Substanzen Temperaturempfindungen aus. Menthol beispielsweise hinterlässt einen kühlenden Eindruck. Auf der Suche nach den dafür verantwortlichen Kältesensoren kamen sowohl Julius (Nature, 416(6876):52-8) als auch der zweite Nobelpreisträger Ardem Patapoutian (Cell, 108(5):705-15) unabhängig voneinander (und fast gleichzeitig veröffentlicht) auf dasselbe Ergebnis. Der Transiente Rezeptor-Potential-Kationenkanal der Unterfamilie M, ein weiteres Mitglied der TRP-Superfamilie, ist der gesuchte Kältesensor. In Julius’ Nature-Paper wird er noch „cold- and menthol-sensitive receptor“, CMR1, genannt.
Neu und außergewöhnlich
Erstaunlicherweise ist diese Entdeckung noch gar nicht so lange her. Beide Paper erschienen im Frühjahr 2002. Und auch die weiteren Nobelpreis-honorierten Veröffentlichungen sind eher jüngeren Datums. Patapoutian interessieren nämlich nicht nur Kälte- und Wärmesensoren, sondern auch Rezeptoren, die auf mechanische Reize wie eine Berührung reagieren. Auf seiner Suche nach diesen Mechanosensoren stieß er auf eine völlig neue Ionenkanal-Klasse. Zwei Mitglieder dieser Familie, erstmals 2010 geklont, sind PIEZO1 und PIEZO2. Erst 2014 war klar, dass PIEZO2 wirklich der Sensor für leichte Berührung ist (z. B. Nature, 509(7502):622-6). 2015 schrieben wir über dieses und andere Paper in unserem Stichwort zum Thema „Mechanosensoren“.
Aber PIEZO2 kann noch viel mehr, er ist auch für die Propriozeption verantwortlich, also wie der eigene Körper, der Kopf, die Beine im Raum und zueinander orientiert sind. Wie Patapoutian et al. 2015 eindrücklich beschrieben: „We found that the mechanically activated nonselective cation channel Piezo2 was expressed in sensory endings of proprioceptors innervating muscle spindles and Golgi tendon organs in mice. Two independent mouse lines that lack Piezo2 in proprioceptive neurons showed severely uncoordinated body movements and abnormal limb positions“ (Nature Neurosci, 18:1756–62). Auch der Baroreflex, der den Blutdruck aufrechterhält, kommt nicht ohne die Piezo-Sensoren aus (Science, 362(6413):464-7).
„Mechanotransduction is perhaps the last sensory modality to be understood at the molecular level“, schreibt Patapoutian auf seiner Webseite. Mit dem Nobelpreis unterm Arm wird auch diese Wissenslücke wohl bald geschlossen werden.
Kathleen Gransalke
Bild: Niklas Elmehed/Nobel Prize Outreach
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