Wer hat’s erfunden?
(08.07.2021) Nicht Amerikaner, sondern die Schweizer Neurimmune entdeckte den stark diskutierten Alzheimer-Antikörper Aducanumab – Zulassungskrimi inklusive.
Es war ein emotionales Auf und Ab in den letzten Monaten: Aducanumab, einem Antikörper, der gegen Alzheimer-assoziierte Amyloid-Plaques gerichtet ist, wird erst durch ein unabhängiges Fachgremium die Wirksamkeit abgesprochen. Nur Monate später wird er dann aber doch im Rahmen eines beschleunigten Verfahrens durch die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA in den USA zugelassen.
Seinen Ursprung hat das derzeit heiß diskutierte Präparat aber nicht in den USA bei Biogen, sondern in Schlieren, im Kanton Zürich – bei Neurimmune. „Die Gründung von Neurimmune korreliert eng mit der Entwicklung von Aducanumab“, erzählt Fabian Buller, Chief Business Officer des Unternehmens. Die Gründer, die Professoren Roger Nitsch und Christoph Hock sowie der Neurowissenschaftler Jan Grimm, gründeten das Unternehmen 2006 als Spin-off der Universität Zürich mit der Idee, einen Antikörper gegen Amyloid-Ablagerungen, wie sie für die Alzheimer-Erkrankung typisch sind, zu entwickeln. „Bei den Gründern kam bereits früh die Frage auf, warum ungefähr zwei Drittel der über 80-Jährigen keine Demenz entwickeln, das andere Drittel jedoch schon. Nitsch und Hock haben das dann 2005 im Rahmen einer Studie untersucht und festgestellt, dass länger gesund bleibende Personen oft Autoantikörper gegen fehlgefaltete Proteine bilden“. Auf Basis dieser Studie und weiterer Ergebnisse gelang es den Forschenden, mehrere Antikörper-Kandidaten zu identifizieren, die die neugegründete Neurimmune weiterentwickeln sollte.
Rückwärts gedacht
Dabei ist die Herangehensweise des Schweizer Unternehmens einzigartig, wie der studierte Chemiker Buller beschreibt: „Unseren Ansatz bezeichnen wir als ‚reverse translationale Medizin‘. Revers deswegen, weil wir nicht im Labor Strukturen entwickeln, die auf unser Target passen, sondern in gesunden Personen nach Immunantworten auf unsere Zielstruktur suchen“.
Der Vorteil: Am Ende steht bereits ein humaner Antikörper als Entwicklungskandidat und kein chimäres Protein mit tierischen Anteilen, wie bei einigen anderen Verfahren. Um passende Kandidaten zu identifizieren, untersuchten die Schweizer Blutproben von Gesunden und Patienten mit langsam fortschreitender Demenz auf Autoantikörper gegen Amyloid-Plaques. Dazu nutzten sie Gehirnschnitte verstorbener Alzheimer-Patienten, um die Immunglobuline auf ihre Bindungskapazität hin zu screenen. „Wir haben für diese Tests gezielt humanes Gewebe eingesetzt, da wir nach Antikörpern gesucht haben, die nur die pathologische Konformation des Amyloid-Beta erkennen“, erläutert Buller. So gelang es den Forschenden, ein hochselektives Immunglobulin zu identifizieren – Aducanumab. Diese hohe Selektivität sei auch ein Kernfeature des Biogen-Präparates. Vorherige Amyloid-Antikörper hätten oft auch das monomere Amyloid-Beta-Peptid oder andere Strukturen im Blut gebunden und dadurch die Blut-Hirn-Schranke nicht mehr gut passieren können.
Er wirkt nicht, er wirkt doch
Das Schweizer Unternehmen konnte schnell Erfolge vorweisen und lizenzierte bereits 2007, also im Jahr nach der Gründung, die Rechte an Aducanumab für 380 Millionen US-Dollar an den US-amerikanischen Pharmakonzern Biogen. „Die Wahl fiel damals auf Biogen, unter anderem weil das Unternehmen eines der wenigen war, das rekombinante, therapeutische Antikörper in großem Maßstab herstellen konnte. Zudem teilten die Kollegen unseren Pioniergeist für die Entwicklung neuer Therapeutika gegen neurodegenerative Erkrankungen“, erinnert sich der Chemiker.
Zunächst sah auch alles gut aus für die geplante Zulassung. Bis im März 2019 eine Interims-Inspektion der Studiendaten einen erfolgreichen Ausgang der zwei zu diesem Zeitpunkt laufenden Phase-3-Studien als unwahrscheinlich erscheinen ließ. Biogen stoppte daraufhin beide Studien, analysierte die Daten erneut und proklamierte wenige Monate später, dass Aducanumab in höheren Dosen doch wirksam sei. „Die Krux ist, dass man erst eine substantielle Menge der Amyloid-Ablagerung entfernen musste, bis man eine Auswirkung auf die kognitiven Fähigkeiten beobachten konnte. Wir schätzen, dass etwa 70 % des Amyloid-Beta entfernt werden muss“, erklärt Buller. Dies erledige Aducanumab binnen 12 bis 18 Monaten. Daher erklärte Biogen, dass die Reduktion der Amyloid-Plaques als Surrogatmarker für die Wirksamkeit des Präparates ausreiche. Eine Ansicht, der noch im November 2020 ein von der FDA einberufenes, unabhängiges Gremium aus Fachleuten widersprach.
Wahrscheinlich effektiv
„Für uns war wichtig, dass der Antikörper die Amyloid-Ablagerungen in Patienten entfernen kann und das schafft er sehr zuverlässig. Es handelt sich zwar um einen Surrogatmarker, der jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit mit einem klinischen Effekt für die Patienten verbunden ist“, entgegnet Buller. Zudem sei die Verwendung eines solchen Behelfsparameters als Basis für eine Zulassung nicht selten bei langsam fortschreitenden Erkrankungen.
Am 07. Juni 2021 sorgte die FDA dann für einen Paukenschlag: sie ließ Aducanumab in einem beschleunigten Verfahren für den amerikanischen Markt zu. Eine Überraschung für viele Beobachter, folgte die Behörde bis dato doch meistens den Empfehlungen seiner Gremien. Biogen muss nun jedoch im Rahmen einer Post-Marketing-Studie zeigen, dass der Antikörper auch wirklich wirksam ist. Buller: „Das ist natürlich die Chance die Wirkung von Aducanumab bei der richtigen Dosis, über den richtigen Zeitraum in einer Real-world-Population zu zeigen“. Zulassungen in Europa und weiteren Ländern werden von Biogen und dem japanischen Partner Eisai bereits angestrebt. Im Oktober 2020 war etwa das Zulassungsdossier an die EMA übermittelt worden. Inwieweit sich die positiven Signale von der anderen Seite des Atlantiks auf eine europäische Markteinführung auswirken, bleibt abzuwarten.
Der nächste Blockbuster?
Finanziell lohnt sich die Zulassung des Präparats bereits jetzt sowohl für Biogen als auch den Entdecker Neurimmune. Die Biogen-Aktie verzeichnete nach Zulassung einen Kurszuwachs von 40 % und im Rahmen der Lizenzvereinbarung stehen Neurimmune diverse Meilenstein-Zahlungen und sogenannte Royalties, also fortlaufende Beteiligungen an den Verkaufserlösen, zu. Das Alzheimer-Medikament soll in den USA 56.000 Dollar pro Jahr kosten. Selbst wenn nur ein Bruchteil der etwa 6 Millionen Betroffenen des Landes damit behandelt wird, ergibt dies eine stattliche Summe. „Das ist für Neurimmune auf jeden Fall ein wichtiger, finanzieller Schritt, um unsere Forschung weiter auszubauen“, meint der Chief Business Officer dazu.
Das werden die Schweizer nun auch mit neuem Selbstbewusstsein tun, habe die Entscheidung der amerikanischen Arzneimittelbehörde doch gezeigt, dass die hauseigene Entwicklungsplattform wirksame Therapeutika hervorbringen könne, so Buller.
In der Pipeline bei Neurimmune stecken auch weitere Antikörper gegen krankhafte Protein-Ablagerungen. Das Unternehmen arbeitet beispielsweise ebenfalls zusammen mit Biogen derzeit an einem Immunglobulin gegen pathologische Proteinklumpen des Proteins Tau – eine weitere häufig bei Alzheimer beobachtete Veränderung. Neben den wissenschaftlichen Entwicklungen stehe auch der Ausbau der Firmenzentrale auf dem Plan. So wolle Neurimmune, beflügelt durch den kürzlichen Erfolg, die Belegschaft von derzeit 60 Mitarbeitenden in den nächsten zwei Jahren verdoppeln. Es bleibt abzuwarten, ob sich die positiven Studienergebnisse bestätigen werden. Eine Erfolgsgeschichte ist Aducanumab für Fabian Buller und das Team von Neurimmune allerdings schon jetzt.
Tobias Ludwig
Bild: Neurimmune (Kittel) & Lewisiscrazy (Aducanumab-Struktur, CC-BY-SA-4.0)
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