Auf Eis gelegt

(14.06.2021) Werden durch den Fokus auf SARS-CoV-2 andere wissenschaftliche Projekte und Themen benachteiligt? Eine vorläufige Bestandsaufnahme.
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Editorial

Corona ist überall präsent und immer eine Nachricht wert. Auch wir berichten natürlich regelmäßig zur SARS-CoV-2-Forschung. Andererseits führte das neue Virus innerhalb kürzester Zeit auch zu einer Flut wissen­schaftlicher Publikationen, die kein Experte je alle lesen kann. Eine Suche auf PubMed liefert 74.064 Treffer für Paper aus dem Jahr 2020, die das Wort „SARS-CoV-2“ oder „COVID“ im Titel tragen. Für das laufende Jahr sind es schon (Stichtag: 11. Juni 2021) 52.499 Suchergebnisse. Zum Vergleich: Alzheimer liegt mit bislang 3.093 Treffern im aktuellen Jahr weit dahinter, und selbst das Schlagwort „Cancer“ im Titel kommt nur auf etwas über 45.000 Treffer im Jahr 2021. Dass ein einzelnes Virus in so kurzer Zeit in dieselbe Liga aufsteigt, liegt natürlich an der Pandemie, die die Welt überrascht hat.

Neben diesen offiziell publizierten Arbeiten existiert nochmal eine unbekannte Zahl an Preprints, Presse­mitteilungen und Veröffent­lichungen auf Instituts­webseiten, die teilweise ebenfalls mediale Wellen schlagen. Klar, wir brauchten Studien und Ergebnisse, und das möglichst schnell. Wichtig war, dass unterschiedliche Disziplinen ihr Wissen einbringen. Wer hätte vor 2020 gedacht, dass Virologen, Immunologen, Intensiv­mediziner, Epidemiologen, Modellierer, Aerosol­forscher, Wirtschafts- und Sozialwissen­schaftler allesamt an ein und demselben Thema interessiert sind?

Forschungsförderer machten im Eiltempo Geldmittel mobil gegen Corona. Aus allen Richtungen gingen Wissenschaftler an die Arbeit. Doch so dringlich die Erforschung der Pandemie war und ist, so gibt es doch Schattenseiten: Halbgare Ergebnisse liegen auf Preprint-Servern, und manch ein Forscher überschreitet vielleicht doch seine Kompetenz, wenn er zum Beispiel nach kreuz­reaktiven Antikörpern sucht und seine Ergebnisse voreilig interpretiert.

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Auf Kosten anderer Forschung?

Der Epidemiologe und Tuberkulose-Forscher Madhukar Pai von der McGill University in Montreal bezeichnete dieses Umsich­greifen der Corona-Themen als „Covidization“. Bereits im April 2020 wies er auf diesen Trend hin und führte seine Sorgen ein paar Monate später in einem Kommentar in Nature Medicine aus (26(8): 1159). Pai schreibt dort: „In meinem Feld [...] sind viele Forscher bereits auf COVID-19 umgeschwenkt. Das ist ein Verlust, denn der Tuberkulose erliegen viel mehr Menschen und die Pandemie hat die Situation sogar noch verschlimmert.“ Andere wichtige Forschungs­themen könnten also durch den Fokus auf SARS-CoV-2 vernachlässigt werden.

Nun mag man kritisieren, dass einige Forscher thematisch „fremdgehen“. Doch vor der Pandemie gab es nun mal keine SARS-CoV-2-Experten; die Forschung an Coronaviren war eine Nischen­tätigkeit. Nach den Fällen von SARS-CoV-1 in den Jahren 2002 und 2003 entstanden zwar Arbeiten zur Immun­antwort auf das Virus bis hin zu möglichen Impfstoffen; doch da keine akute Bedrohung mehr bestand, ließ das Interesse schnell nach. Das MERS-Coronavirus, auf das Virologen 2012 aufmerksam wurden, ist bislang auf den mittleren Osten beschränkt und scheint nur schwer von Mensch zu Mensch übertragbar. Auch hier gab es weltweit also nur wenige Spezialisten, die aktiv am Erreger forschten.

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Quereinsteiger von allen Seiten

Zwangsläufig waren die meisten Wissenschaftler also Quereinsteiger, die ab 2020 dem neuen SARS-Coronavirus auf die Schliche kommen wollten. Unter ihnen natürlich viele Immunologen und Virologen. Zum Beispiel arbeitet eine Reihe von HIV-Experten jetzt an Corona. „Der Vorteil ist, dass in dieser Forschungs­gemeinde schon viel Verständnis über Viruserkran­kungen da ist“, stellt Julia Roider fest, Leiterin der Arbeitsgruppe HIV-Forschung am Universitäts­klinikum München. „Forschungsmäßig kommen tatsächlich viele großen Spieler der Coronaforschung aus dem HIV-Bereich.“ Auch Roider sieht das ambivalent: „Es ist leider so, dass viele HIV-Projekte jetzt einfach auf Eis gelegt wurden – da ist im vergangenen Jahr sehr wenig passiert, auch bei den Fördermitteln.“

Die Förderungen speziell für HIV-Forschung seien allerdings auch in den Jahren zuvor bereits rückläufig gewesen. „Weil HIV mittlerweile eine behandelbare Erkrankung ist und das generelle Interesse zurückgeht.“ Dennoch gibt es weltweit Regionen ohne Zugang zu antiviralen Therapien, sodass noch immer Bedarf an neuen Erkenntnissen zum Immunsystem und möglichen HIV-Vakzinen besteht. Corona trägt nun also dazu bei, einem anderen wichtigen Forschungsfeld Ressourcen zu entziehen.

Andere Arbeit

Roider forscht weiterhin an HIV (siehe „Wenn das Immunsystem über die Stränge schlägt“ in LJ 5-2021), doch auch ihre Arbeit hat sich durch COVID-19 verändert. „Ich bin Infektiologin und Internistin, und wegen der klinischen Situation durch Corona war meine persönliche Arbeits­kapazität stark beeinträchtigt, und ich war viel mit anderen Dingen beschäftigt.“

Und doch war es notwendig, das neue Virus zu untersuchen. Wie uns verschiedene Corona-Forscher zurück­meldeten, zeigten sich hierzulande Forschungs­förderer wie die DFG unbürokratisch und flexibel: Geldmittel aus laufenden Projekten durften in einigen Fällen auch für Studien zu SARS-CoV-2 verwendet werden, und zusätzliche Geldtöpfe standen bereit (siehe „Corona-Gespräche“ in LJ 4-2021). Doch geht diese Unterstützung auf Kosten anderer wissen­schaftlicher Projekte? Die DFG gibt Entwarnung und schreibt uns hierzu per Mail: „Die Verwendung von Geldern für die Fokus-Förderung COVID-19 bedeutet keinen Verlust für die Förderung von Forschungs­projekten an anderer Stelle.“

Zeitverträge problematisch

Wir haben uns bei einigen Wissenschaftlern umgehört, die jenseits von Corona tätig sind; und tatsächlich scheint es bislang keine Probleme bei Antrag­stellungen zu geben. Allerdings ist es möglicherweise zu früh, das zu beurteilen, denn womöglich wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen, ob für Nicht-Corona-Projekte noch immer genauso viel Geld zur Verfügung steht wie in der Vergangenheit. „Was ich aber sagen kann, ist, dass unsere DFG-Anträge coronabedingt leicht und unbürokratisch von der DFG verlängert werden konnten“, berichtet uns Biochemiker Gunter Meister, der in Regensburg eine Arbeitsgruppe zur RNA-Biologie leitet.

Meister sitzt derzeit außerdem selbst im Fachkollegium Biochemie der DFG. „Hier kann ich sagen, dass es keine Verschiebung hin zu Corona-Projekten zu Lasten anderer Projekte gab“. Bei corona­spezifischen Projekten habe man zwar gelegentlich den Eindruck, dass auch mal ein „Trittbrettfahrer“ dabei sei, doch für die Corona-Forschung gelten keine anderen Maßstäbe, wie Meister betont: „Die werden, wie alle anderen, nach rein fachlichen Kriterien beurteilt.“

Nachwuchs leidet

Schwierig sei es aber mitunter, Arbeitsverträge zu verlängern. „Das hat mit dem leidigen Wissen­schaftszeit­vertragsgesetz zu tun, was zumindest in den Lebens­wissenschaften völlig an der Realität vorbeigeht und den Leuten, die es schützen soll, definitiv schadet“, so Meister. Er weist darauf hin, dass Mitarbeiter jetzt eigentlich mehr Zeit für die Weiter­qualifizierung bräuchten. „Junge Leute konnten sich auf Konferenzen nicht präsentieren und Kontakte knüpfen, was es nicht leichter macht, eine passende Stelle zu finden.“ Somit leidet wohl vor allem der wissenschaftliche Nachwuchs unter der Pandemie, dem wir uns daher auch in einem Beitrag im aktuellen Heft („Nachwuchs in Not“ in LJ 6-2021) widmen.

Auch aus Österreich haben wir eine Rückmeldung bekommen, nämlich von Christa Schleper, Leiterin der Einheit Archaea-Ökologie und -Evolution an der Universität Wien. Ihre Forschungs­arbeiten seien derzeit über ein großes EU-Projekt finanziert, sodass sie nichts speziell über österreichische Geldgeber sagen kann. „Allgemein hat der Forschungsfonds in Österreich aber weniger Geld“, stellt sie fest. Arbeitsverträge in Österreich zu verlängern, sei ihrer Erfahrung nach nicht das Problem. „Aber auf der anderen Seite werden alle Projekte nur kostenneutral von den Fördergebern verlängert“, bedauert sie und weist darauf hin, dass ja irgendwo auch Geld herkommen müsse. Schleper sieht dadurch Doktoranden und Postdocs im Nachteil und fragt: „Warum gibt es hierfür keinen Not-Fonds?“

Viren interessieren

Auf einen positiven Nebeneffekt der „Covidization“ weist Susanne Erdmann vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen hin: „Viren sind aktuell ein ‚hot topic’, und das ist nicht nur auf Corona beschränkt.“ Erdmann interessiert sich nämlich für Viren, die Archaeen befallen (siehe „Evolutionäres Zwischen­stadium?“ auf LJ Online). Weit weg also von menschlichen Infektions­krankheiten, aber doch irgendwie in die Zeit passend. „Die ‚Viruswelle’ lässt sich gut nutzen, um auch darauf hinzuweisen, dass es noch andere Viren gibt“, stellt Erdmann fest und betont die Rolle der Viren im Ökosystem. „Das zeigt auch auf, was für eine große Lücke wir da noch in der Forschung haben.“

Vielleicht zeigt uns die Pandemie jetzt also auch, wie wichtig Grundlagenforschung ist: Viren-Reservoirs in Tierpopu­lationen, mRNA-Vakzine oder die Stabilität von Virionen in der Luft waren vor 2020 schließlich auch keine Mainstream-Themen. Und vielleicht hat umgekehrt die „Covidization“ am Ende doch auch ein paar positive Effekte über die Virologie hinaus. Ein Beispiel: Seltene Erkrankungen wie das chronische Erschöpfungs­syndrom werden wir nach der Pandemie vielleicht besser verstehen. Für die Betroffenen wäre das ein Segen.

Mario Rembold

Bild: AdobeStock/Oksana Volina


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Letzte Änderungen: 11.06.2021