„Wir brauchen eine weniger aggressive Debatte“

(25.05.2021) Erneut muss sich die Uni Tübingen mit Tierversuchs­gegnern auseinandersetzen. Dabei setzt sie seit Jahren auf Dialog und Aufklärung. Vergeblich.
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Editorial

Nachdem Tierschützer bereits dem Primaten­forscher und Neurowissen­schaftler Nikos Logothetis das Forschen in Tübingen madig gemacht haben, sind nun die Krähen­forscher an der Reihe. Der Verein SOKO Tierschutz wirft dem Neurobiologen Andreas Nieder vor, er habe wilde Krähen ohne entsprechende Genehmigung für Tierversuche verwendet. Der Verein hat deshalb Strafanzeige gestellt. Wir sprachen mit der Hochschul­kommunikation der Universität Tübingen.

Ist es überhaupt möglich, an der Universität Tübingen Tierversuche ohne die nötigen Genehmigungen durchzuführen?
Uni Tübingen: Die Universität hält sich bei der Beantragung und Durchführung von Tierversuchen streng an Recht und Gesetz. Gemäß der deutschen Rechtslage müssen Versuche an Wirbeltieren den zuständigen Behörden entweder vorab angezeigt oder zur Genehmigung vorgelegt werden. Der Genehmigungs­prozess wird von den Tierschutz­beauftragten der Universität Tübingen begleitet und überprüft. Diese agieren unabhängig und sind keiner Weisung durch Forschende oder Universitäts­leitung unterworfen.

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Wie aufwendig ist der Genehmigungs­prozess für Tierversuche?
Uni Tübingen: Die Verwendung von Tieren für Versuchs­zwecke ist stark reglementiert und unterliegt strengsten Auflagen. Ein Genehmigungs­prozess ist zeitintensiv und kann einige Monate dauern. Tierversuchs­vorhaben müssen gewissenhaft und detailliert schriftlich beantragt werden. Sie werden erst universitäts­intern geprüft und gehen dann an die genehmigende Behörde und deren Kommission. In der Regel sollen Zuchttiere eingesetzt werden, der Einsatz von Wildtieren bedarf einer eigenen Genehmigung durch die Behörde.

Wie versucht die Universität Tübingen, Tierversuche zu ersetzen?
Uni Tübingen: Grundsätzlich sind Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftler gefordert, auf Alternativen auszuweichen, wenn dies möglich ist und immer das bekannte 3-R-Prinzip (Replacement, Reduction, Refinement) mitzudenken. Wo immer möglich, sollen Zellkulturen, nichtinvasive Verfahren und Computer­simulationen eingesetzt werden.
Die Medizinische Fakultät der Universität Tübingen und das angegliederte Naturwissen­schaftliche und Medizinische Institut (NMI) Reutlingen haben hierzu kürzlich eine gemeinsame Professur etabliert. Peter Loskill entwickelt „Organ-on-a-Chip“-Technologien, also In-vitro-Modelle, die komplexe human­biologische Vorgänge außerhalb des menschlichen Körpers nachbilden. Sie sollen Tierversuche reduzieren oder teilweise ersetzen können. Peter Loskill leitet auch das neu gegründete 3R-Center für In-vitro-Modelle und Tierversuchs­alternativen Tübingen/Reutlingen. Dieses ist wiederum im 3R-Netzwerk Baden-Württemberg vernetzt, das sich in diesem Jahr gegründet hat und vom baden-württem­bergischen Wissenschafts­ministerium gefördert wird. Die Universität Tübingen ist im 3R-Netzwerk federführend.

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An welche Grenzen stoßen Neurobiologen und Verhaltens­forscher?
Uni Tübingen: Alternative Methoden zu Tierversuchen stoßen an Grenzen, wenn es um komplexe Strukturen des Körpers geht oder eben um Funktionen des Gehirns – solche Vorgänge lassen sich nicht oder nur schwer in Zellkulturen oder Computer­simulationen nachstellen. Tierversuche sind unabdingbar, wenn man verstehen will, wie ein Gesamt­organismus Lebens­funktionen hervorbringt oder das Gehirn ein bestimmtes Verhalten.

Welche wesentlichen Erkenntnisse konnte das Labor Nieder durch seine Versuche an Krähen gewinnen?
Uni Tübingen: Das Labor erforscht, wieso einzelne Vogelarten komplexe kognitive Leistungen vollbringen können, die sich sonst nur bei Primaten beobachten lassen, obwohl Vögel ein deutlich anders strukturiertes Gehirn besitzen. Das Verhalten der Krähen wird bei den Versuchen beobachtet und gleichzeitig wird die Nervenaktivität unter­schiedlicher Hirnareale der Tiere gemessen. Auf diese Weise konnte das Labor von Andreas Nieder in den vergangenen zehn Jahren das Wissen über Krähen erheblich erweitern. Unter anderem konnte gezeigt werden, welche Hirnzellen für das Speichern von Bildern im Gedächtnis von Krähen verantwortlich sind (J Neurosci, 34(23):7778-86), dass die Tiere ein Verständnis für Zahlen haben (PNAS, 112(25):7827-32) und dass sie in der Lage sind, Sinnes­eindrücke bewusst zu interpretieren (Science, 369(6511):1626-9). Die Forschungs­ergebnisse zum Bewusstsein von Krähenvögeln wurden von der US-Wissenschafts­organisation AAAS als einer der wissen­schaftlichen Durchbrüche des Jahres 2020 ausgezeichnet.

Inwieweit steht die Universität Tübingen mit der Öffentlichkeit bezüglich Tierversuchen im Gespräch und klärt auf?
Uni Tübingen: Die Universität und ihre Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftler haben in den vergangenen Jahren Informations- und Dialogformate entwickelt. Dazu zählen eine eigene Webseite zu Tierversuchen an der Universität, Vorlesungs­reihen und gedruckte Informations­angebote. In der auf der Webseite herunter­ladbaren Broschüre „Zur Notwendigkeit von Tierversuchen in der biomedi­zinischen Forschung“, die von der Universität und weiteren Forschungs­institutionen in Tübingen heraus­gegeben wird, beantworten wir drängende Fragen.
Unsere Erfahrung war in der Vergangenheit leider, dass sich nur ein kleines Publikum für Diskussions­veranstaltungen interessieren ließ und die überzeugten Tierversuchs­gegner nicht wirklich an einem Dialog interessiert waren. Aber das sollte natürlich kein Grund sein, nicht immer wieder den Dialog zu suchen. Sehr gute Arbeit machen hier unter anderem das Deutsche Primaten­zentrum in Göttingen und der Verein Pro-Test Deutschland e.V., in dem Wissen­schaftler/innen über ihre Versuche an Tieren informieren und aktiv den Dialog suchen. Pro-Test Deutschland wurde vor wenigen Jahren maßgeblich von jungen Forschenden der Universität Tübingen initiiert.

Was wünschen Sie sich für den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu Tierversuchen in der Zukunft?
Uni Tübingen: Eine Debatte, die als echter Meinungs­austausch, also weniger aggressiv und aufgeregt geführt wird. Eine Debatte, in der die Relationen stimmen: Die in der Forschung eingesetzten Tiere sind nur ein Bruchteil der Tiere, die jährlich verzehrt und gejagt werden. Die Wissenschaft muss und kann aushalten, immer wieder kritisch hinterfragt zu werden. Aber gleichzeitig muss der Gesellschaft klar sein: Wenn wir uns weiterhin Fortschritte in der biomedizinischen Forschung wünschen, können wir auf Tierversuche nicht gänzlich verzichten. Um den lebenden Organismus zu verstehen und bei Erkrankung zu heilen, brauchen wir auch künftig verantwortungsvoll durchgeführte Tierversuche.

Das Interview führte Bettina Dupont

Bild: Pixabay/andreas160578

 

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