„Boost your Score!“

(30.03.2021) Wir beschweren uns darüber, dass sich unser Denken und Urteilen immer mehr an Metriken ausrichtet. Dabei machen wir das Spiel doch freiwillig mit.
editorial_bild

Editorial

Haben Sie einen Fitness-Tracker? Sind Sie auf Twitter oder Facebook und zählen ihre Likes und Follower? Kennen Sie Ihren ResearchGate-Score? Achten Sie bei Restaurant­besuchen auf Gault-Millau-Hauben und Michelin-Sterne? Dann sind Sie in guter Gesellschaft, denn Sie betreiben auf verschiedenen Ebenen Reputations-Manage­ment mit quantitativen Indikatoren. Genau wie die Universitäten und Forschungs­förderer. Nur dass Sie das privat und ganz freiwillig machen!

Kürzlich hat sich der Wissen­schaftsnarr über zwei Folgen hinweg ausführlich darüber Gedanken gemacht, wie es dazu kam, dass wir in unserem heutigen Wissenschafts­system Forschung kaum noch nach deren Originalität, Qualität und Einfluss beurteilen – und wie wir stattdessen vielmehr quantitative Indikatoren wie den Journal-Impact-Factor (JIF) oder die Höhe der Drittmittel­einwerbung bemühen, um darüber dann Fördermittel oder akademische Titel zu verteilen (LJ 12/2020 und 1-2/2021). Auch hatte er ein paar närrische Ideen, wie man das Rad wieder ein Stück in Richtung einer inhaltlichen Bewertung von Forschungs­leistungen zurück­drehen könnte. Bei diesen Betrachtungen blieb aber bislang unberücksichtigt, dass sich die Institutionen und Fördergeber in guter Gesellschaft befinden, wenn sie Wettbewerb und Konkurrenz mit einfachen, abstrakten Messgrößen anfeuern – nämlich unserer! Das macht ihnen die Sache natürlich leichter. Und gleichzeitig wird damit der Status quo derart stabilisiert, dass es umso schwieriger wird, ihn zu verändern.

Es soll hier also nicht um die institutionelle, sondern um die individuelle Seite von quantitativer Leistungs­bewertung gehen.

Editorial

Das wissenschaftliche Leistungs­bewertungs­system spiegelt als spezialisierte Verlaufsform letztlich nur einen gesamt­gesellschaftlichen Quantifizie­rungskult, der auch vor dem Privaten nicht haltgemacht hat. Denn nicht mehr nur im Beruf dienen Quantifizie­rungen der Herstellung eines Marktes, in dem über den Wettbewerb mit Zahlen Leistung gemessen und gesteigert wird.

Individuell geht es dabei um Status, um Reputation. Aus der Notwendigkeit, Artikel in renommierten Journalen zu publizieren (oder einfacher gesagt: in solchen mit hohem JIF), um sich im akademischen System zu halten oder gar aufzusteigen, entwickelt sich das Management des persönlichen wissen­schaftlichen Status – nach dem Motto: „Der hat im letzten Jahr zwei Nature-Paper geschrieben!“ oder „Mein h-Index ist über 50“ und so weiter.

Objektive wie auch subjektive Unsicherheit in der Konkurrenz der Wissenschaftler unter­einander erhöhen dabei nur den Wunsch nach Informationen, die den jeweiligen Status quantifizieren. Daraus hat sich eine Fetischisierung der Selbst- und Außen­darstellung entwickelt, die unter anderem in der Hege und Pflege des Lebenslaufs (nur kein Journal vergessen, für das man schon mal ge-reviewed hat!), einer eigenen professionellen Webseite oder eines Twitter-Accounts ausgelebt wird. Das Motto lautet hier vielmehr „Looking Good“, und nicht mehr „Being Good“.

Editorial

Ordentliche Graduierten­programme bieten ihren Studenten mittlerweile Seminare in der Kunst dieser professionellen Selbst­darstellung und Selbst­optimierung an. Wir trainieren den Nachwuchs folglich sogar im Status­wettbewerb – und prämieren Status­streber. Und der Nachwuchs lehnt sich keineswegs mehrheitlich dagegen auf, sondern wünscht sich weitere Vertiefung.

All dies ist natürlich schon deshalb kaum verwunderlich, da sich Reputations-Management über quantitative Indikatoren auch im Privatleben mittlerweile voll durchgesetzt hat. Gerade die Wissenschaft ist von solchen Quantifizierungs­auswüchsen jedoch auch deshalb besonders betroffen, da wir Wissenschaftler möglicherweise über ein gesteigertes Anerkennungs­bedürfnis samt überdurch­schnittlicher Geltungs­sucht verfügen. Titel, Top-Publikationen, Auszeichnungen, immer der Erste sein, ...: Wir Wissenschaftler sind geborene Konkurrenzler.

Außerdem sind Wissenschaftler für die Quantifizie­rungslogik des Wettbewerbes schon aufgrund ihrer speziellen Natur besonders empfänglich. Was messbar ist und in Zahlen ausgedrückt werden kann – das ist transparent, nachvollziehbar, evidenz­basiert, rational, neutral, präzise, einfach, unmittelbar und objektiv vergleichbar. Vermessung gehört zum Grundrepertoire der wissen­schaftlichen Methode. So gesehen ist das Zählen beim JIF und h-Index, aber eben auch bei Gault-Millau-Hauben oder Twitter-Followern gar nicht mal so weit weg von der wissen­schaftlichen Praxis.

Aber ist das nicht harmlos? Ja vielleicht sogar nützlich, da die Wissenschaftler sich auf diese Weise stetig selbst und untereinander anstacheln – und daraufhin forscherische Großtaten vollbringen? Ich fürchte: Nein! Weil jede Quantifizierung durch Abstraktion vereinfacht. Eine Qualität („Was?“) wird in eine Quantität („Wie viel?“) transformiert. Unvergleich­bares wird plötzlich vergleichbar, sogar die sprich­wörtlichen Äpfel mit den Birnen! Es gilt nun ein gemeinsamer Maßstab für unter­schiedliche Dinge. Herr Dr. Maier und Frau Dr. Müller können sich jetzt direkt vergleichen. Über den kumulativen JIF oder den h-Index, über ResearchGate oder den Altmetric Score.

Gerade die letzten beiden sind wunderbare, aber auch traurige Beispiele für den Kern des Problems. Impact wird als „Aufmerksamkeit“ verstanden. Folglich stehen hier nicht originelle Hypothesen, neue Erkenntnisse oder gar wissen­schaftlicher oder gesell­schaftlicher Nutzen im Zentrum, sondern schlichte Sichtbarkeit und Popularität. ResearchGate fordert seine Nutzer etwa auf: „Boost Your Score“. Dabei legt ResearchGate gar nicht offen, wie der Score berechnet wird. Ob er reproduzierbar ist, oder was er eigentlich aussagen soll. Das macht aber eigentlich nichts, denn schließlich produziert er eine Zahl – und über diese kann man sich vergleichen und miteinander konkurrieren. Die Folge: Unser Denken und Urteilen richtet sich dadurch mehr und mehr an solcher Indikatorik aus – und verdrängt dabei professionelle Standards und Inhalte.

Wer die Hyper­kompetition im System – das „Publish or Perish“ – kritisiert und die Institutionen zum Umsteuern auffordert, muss sich deshalb auch an die eigene Nase fassen. Wir beteiligen uns freiwillig und mit großem Eifer an einer Vielzahl von – teilweise privaten – Spielarten der Konkurrenz, die mittels karger, vom Gegenstand getrennter Zahlen ausgetragen werden.

Dazu passt, dass wir uns vor allem dann so richtig aufregen, wenn wir mit den eigenen Zahlen – unserem Ranking also – nicht zufrieden sind. Denn korreliert die Zufriedenheit mit einem Indikator und seiner Berechnung etwa nicht in den meisten Fällen sehr gut mit der eigenen Platzierung? Schneidet man nicht gut ab, dann ist der Indikator mutmaßlich ungeeignet. Und in diesen Momenten hört man dann selbst von bisher nicht als kritisch aufgefallenen Kollegen so manchen wahren Satz zu JIF oder Drittmittel­zahlen. Oder man mäkelt am Algorithmus herum – und wünscht sich eine Formel, bei deren Anwendung man besser dasteht.

Wir haben die quantitative und abstrakte Status-Logik, die uns von den Institutionen aufgedrückt wird, längst verinnerlicht, sie zu einer wichtigen Zielgröße unseres Selbstwert­gefühls gemacht. Wir haben die Indikatoren und Maßstäbe freiwillig übernommen; und weil die Institutionen und die Kollegen ihnen großen Wert beimessen, tun wir selbst dies mit umso größerer Überzeugung: Conform and perform!

Steffen Mau, der in seinem lesenswerten Buch „Das metrische Wir – Über die Quanti­fizierung des Sozialen“ diese Umtriebe aus sozial­wissen­schaftlicher Perspektive ausführlich analysiert, weist am Anfang seines Traktates darauf hin, dass im Deutschen schon das Verb „vermessen“ eine Vorahnung auf Schlimmes enthält: „Vermessen“ meint ja nicht nur den Vergleich mit einem Maßstab, sondern bedeutet auch „falsch messen“ sowie „überheblich“ beziehungs­weise „anmaßend“. Der falsche Maßstab, der Reflex auf die Reputation und letztlich das Setzen von falschen Anreizen – alles das nimmt die deutsche Sprache da schon vorweg!

Ulrich Dirnagl

Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj



Letzte Änderungen: 30.03.2021