Nützlich, lästig, idealisiert

(24.11.2020) Mathematische Modelle können die komplexe Biologie oftmals sinnvoll vereinfachen. Der Blick über den Tellerrand lohnt sich also.
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Editorial

„Mathematik für Biologen und Mediziner“ – so oder ähnlich heißt manch eine Pflicht­veran­staltung der ersten Semester. Nicht für alle Studierenden sind die zuge­hörigen Vorle­sungen, Übungen und Klausuren die reinste Freude. Anderer­seits flirtet die Biologie spätestens seit dem 19. Jahrhundert mit der Mathematik. Mal als schlichtes Werkzeug für die statistische Auswertung – mal, um wunderbar elegante Modelle zu liefern. Und heute, in Omics-Zeiten, ist eine Biologie ohne Mathematik gar nicht vorstellbar. Manchmal, weil es einfach keine Alternative gibt beim Umgang mit der Datenflut, manchmal aber auch, weil die Modellierer echte Wege zum Verständnis biolo­gischer Prinzipien anbieten können.

Vereinfachung ist also erwünscht. „Das ist etwas, womit Biologen oft ein Problem haben“, stellt Philipp Messer als Quer­einsteiger aus der Physik fest. Denn je näher ein Modell der Realität kommt, desto mehr Annahmen fließen dort ein. Grund­prinzipien verschwinden dann hinter der Komplexität – und letztlich braucht man das Modell gar nicht, weil man dann auch gleich direkt ins natürliche System schauen kann. „Genau das ist die ewige Heraus­forderung“, erklärt Messer, der an der Cornell University eine Arbeits­gruppe zum Thema Evolutions­biologie und Populations­genetik leitet, und fragt: „Für welche Vorher­sagen macht es überhaupt Sinn, einen Spezialfall zu berück­sichtigen? Und würde dieser Spezialfall wirklich die grund­legenden Vorher­sagen ändern?“

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Historische Grundsteine

Historisch ist die Mathematik den Biologen gar nicht so fremd, wie man meinen möchte, legt Messer dar: „Die Popula­tionsgenetik fing an als theore­tische Wissenschaft.“ Ronald Fisher, Sewall Wright und John Haldane seien „die alten Herren dieser Disziplin“, die mit ihren Modellen zu Allelen in Popu­lationen diploider Orga­nismen wichtige Grund­steine legten. „Das sind Arbeiten aus den Zwanziger-, Dreißiger- und Vierziger­jahren des neun­zehnten Jahrhunderts.“

Die Siebziger- und Achtziger­jahre seien dann geprägt gewesen durch die sogenannte neutrale Theorie der molekularen Evolution, eingeführt von Motoo Kimura. Hierbei geht man davon aus, dass die meisten Poly­morphismen innerhalb einer Population weder vorteilhaft noch nachteilig sind. Mutationen sind also in der Regel neutral. „Allein rein zufällige Schwan­kungen bewirken, dass der eine Poly­morphismus irgendwann verschwindet und ein anderer fixiert wird“, beschreibt Messer die Grund­annahme und ergänzt, dass die neutrale Evolution bis vor rund 15 Jahren als das Paradigma der Popula­tionsgenetik galt. „Mit diesem Modell konnte man wunderbar rechnen – doch lange Zeit gab es dazu überhaupt keine Daten!“

Mit der Revolution der Sequenzier­methoden hat sich das aber geändert. „Jetzt können wir rausgehen und wirklich mal eintausend Genome aus einer Population sequenzieren“, freut sich Messer. Doch die Gendrift, also die Verän­derung der Allel­frequenzen innerhalb einer Population, folgt eben nicht Kimuras Annahmen, wie der Blick auf die biolo­gischen Daten zeigt. „Heute wissen wir, dass es viel kompli­zierter ist“, so Messer, „anscheinend wirkt doch viel mehr Selektion, als man gedacht hatte“.

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Die interessanten Probleme

Auch Arne Traulsen ist eigentlich Physiker. Er leitet die Abteilung für Evolutions­theorie am Max-Planck-Institut für Evolutions­biologie in Plön. Offenbar sind es eher Physiker und Mathe­matiker, die den Weg an ein biologisch ausge­richtetes Institut finden als umgekehrt. „In der Biologie liegen schlichtweg die interes­santen Probleme“, erklärt Traulsen.

Traulsens Expertise liegt in der Spieltheorie – einer Disziplin, die sich von jeher nicht um „Genre-Grenzen“ schert. Die Grundidee: Inter­aktionen zwischen zwei Individuen betrachtet man verein­facht als ein Spiel. Einer kann gewinnen, der andere verlieren; es können aber auch beide Spieler mit Verlust oder beide mit Gewinn nach Hause gehen. Der Gewinn kann eine Futter­ressource, ein Paarungs­partner oder Geld sein. Und jeder Spieler wählt eine bestimmte Strategie, die zum Beispiel kooperativ oder kompetitiv ist – oder bei mehreren Spiel­runden auch nach­tragend oder verzeihend sein kann.

Klar, dass sich auch Wirtschafts­wissenschaftler und Psycho­logen in der Spieltheorie austoben. Und selbst­verständlich ist das Feld von Mathematik geprägt. Doch da man Strategien auch so modellieren kann, dass sie als Allel codiert sind und sich weiter­vererben, kann das Spiel auch einfach um Fitness und somit die Anzahl der Nach­kommen laufen. Und Nachkommen erben natürlich auch die Strategien ihrer Vorfahren – womit die Spiel­theorie letztlich auch bei Evolutions­biologen und Populations­genetikern auf Interesse stößt.

Biologen beherrschen experimentelles Design

Nun könnte man die Physiker darum beneiden, dass sie in ihren Versuchen relativ leicht Stör­faktoren ausschal­ten können. In der Biologie klappt das natürlich nicht. Doch Traulsen stellt klar: „Worin die Biologen extrem gut sind, das ist die Wissenschaft vom experi­mentellen Design.“ Kontroll­versuche, doppelte Verblindung oder Placebo­gruppen dienen schließlich genau dazu, eine spezielle Variable zu isolieren. „Ein Physiker hingegen lernt im Studium eigentlich nicht wirklich, was eine Kontrolle ist.“

Traulsen legt aber ebenso Wert auf eine gewisse Eigen­ständigkeit der theore­tischen Biologie. Auch wenn ein mathe­matisches Modell kein echtes biolo­gisches System abbildet oder sich nicht experi­mentell über­prüfen lässt, könne man daraus dennoch Erkennt­nisse ableiten. „Man sollte den Mathe­matiker jetzt nicht stoppen, nur weil er der Biologie nicht mehr dient“, mahnt Traulsen. „Denn Wissen­schaft ist mehr, als bloß Aktien zu kaufen, die gerade steigen.“

Das richtige Journal?

Wichtig sei es außerdem, seine Ergebnisse in den richtigen Fach­blättern zu publizieren. Wer eine neue Erkenntnis zur Popula­tionsgenetik in einem mathe­matischen Journal veröffentlicht, erreicht womöglich nicht die richtige Community. Anderer­seits sei es auch schon mal frustrie­rend, ein Paper speziell auf eine Zielgruppe hin auszurichten. „Die Biologen zwingen uns oft dazu, wirklich interessante Aspekte in die Supplements auszulagern“, bedauert Traulsen. Und auch innerhalb der eigenen Gemein­schaft der evolutionären Spieltheo­retiker stößt nicht jede neue Idee gleich auf Begeis­terung. „Gerade weil durch die Inter­disziplinarität Erkenntnisse in der einen Disziplin grund­legend sein können, aber aus einer anderen Perspektive eher nebensächlich.“

Mario Rembold

Bild: Pixabay/STA82

Dieser hier gekürzte Artikel erschien in ausführlicher Form in Laborjournal 11/2020.



Letzte Änderungen: 24.11.2020