„Der Schlüssel heißt Parallelisierung“

(10.11.2020) Ein mRNA-basierter SARS-CoV-2-Impfstoff der Mainzer Firma BioNTech scheint kurz vor der Zulassung. Im September erzählte deren Geschäftsführer Ugur Sahin uns, wie er dessen Massenproduktion stemmen will.
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Editorial

Im Durchschnitt dauert es 10,7 Jahre bis zur behördlichen Zulassung eines Impfstoffkandidaten (PLoS One, doi: 10.1371/journal.pone.0057755). Bisheriger Rekordhalter ist der Mumps-Impfstoff mit nur vier Jahren Entwicklungszeit. Die Kombinationsimpfstoffe der Kinderheilkunde brauchten dagegen zehn bis zwölf Jahre. Mit den Vakzinen gegen Papillom- und Rotaviren dauerte es fünfzehn Jahre, auf diejenigen gegen Varizellen und Influenza mussten wir gar dreißig Jahre warten. Gegen Hepatitis-C-, HI- und Dengue-Viren sowie gegen Plasmodium-Stämme und Mycobacterium tuberculosis gibt es auch nach dreißig Jahren noch immer keine Impfungen.

Eine SARSCoV-2-Vakzine soll hingegen nach nur zwölf bis achtzehn Monaten Entwicklungszeit zur Verfügung stehen...

Ugur Sahin, CEO der Mainzer Firma BioNTech, erklärt, wie der jahrzehntelange Marathon der Impfstoffentwicklung auf ein 4x100m-Staffelrennen reduziert wird: „Der Schlüssel heißt Parallelisierung. Wir entwickeln unser mRNA-Vakzin BNT162 in Rekordzeit, indem wir sicherstellen, dass der Entwicklungsprozess ununterbrochen mit maximaler Geschwindigkeit läuft. Dazu gehört auch, dass wir Informationen aus verschiedenen Quellen nicht wie üblicherweise sequenziell, sondern koordiniert parallel erheben.“

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Mehrere Impfstoffkandidaten parallel zu entwickeln und kostenintensive Schritte vor Abschluss vorheriger Phasen zu beginnen, machen diesen Ansatz extrem teuer. Zu Pandemiezeiten liefert er aber den entscheidenden Vorteil: Er verkürzt die Entwicklungszeit um vier bis fünf Jahre.

Sahin erläutert die zweite Stellschraube: „Falls unsere klinischen Studien erfolgreich sind, wollen wir in der Lage sein, große Mengen Impfstoff auszuliefern. Deshalb bauen wir in Kooperation mit Pfizer bereits jetzt unsere Herstellungskapazitäten aus. Wir glauben, dass mehr als zehn Milliarden Impfdosen weltweit nötig sind, um COVID-19 dauerhaft in den Griff zu bekommen.“

Eine Impfstoff-Fabrik muss auf die Anforderungen der jeweiligen Vakzine zugeschnitten sein. Ihr Bau verschlingt je nach Automatisierung, notwendigen Prozess- und Kontaminationskontrollen sowie Nebenkosten bis zu 650 Millionen Euro und dauert im Schnitt sieben Jahre. Die Gesamtkosten für 25 Jahre Betrieb belaufen sich auf 1,4 Milliarden Euro (Vaccine, doi: 10.1016/j.vaccine.2017.06.003). Den Bau einer Produktionsstätte ohne behördliche Zulassung eines Impfprodukts zu beginnen, ist somit eine kostspielige und risikoreiche Angelegenheit. Doch Parallelisierung und zeitgleicher Fabrikbau verkürzen die Impfstoffentwicklung um ein ganzes Jahrzehnt, wie ein Meinungsartikel in der New York Times mit hübschen Schiebereglern vor Augen führt.

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Parallelisierung bedeutet dabei nicht, das klinische Studienprogramm trotz Pandemiedrucks zu verkürzen. Das öffentliche Vertrauen in Impfbemühungen ist erschüttert genug. Eine Zulassung nur auf Basis von Phase-1/2-Ergebnissen kommt weder für die europäische Arzneimittelagentur (EMA) noch für die US-amerikanische Arzneimittelbehörde (FDA) in Frage. Allerdings bearbeitet die EMA alle Zulassungsverfahren für COVID-19-Impfstoffe und -therapeutika mit Priorität. Zugleich erteilt die FDA temporäre Emergency Use Authorizations, die das Zulassungsprozedere um Monate beschleunigen. Für solch eine Sonderzulassung muss ein SARS-CoV-2-Vakzine-Kandidat eine COVID-19-Erkrankung um fünfzig Prozent effizienter verhindern als ein Placebo. Bisher gewährte die FDA solche Sonderzulassungen allerdings nur für In-vitro-Diagnostik- und Antikörpertests sowie für persönliche Schutzausrüstung und Beatmungsgeräte.

Dennoch: Rein logistisch könnte ein SARS-CoV-2- Impfstoff somit 2021 zur Verfügung stehen. Und zumindest für BioNTechs mRNA-Vakzin BNT162 scheint das jetzt realistischer denn je.

Henrik Müller

Illustr.: Adobe Stock/Sebastian Stankiewicz

 

Und was der Tübinger Infektiologe Peter Kremsner als Leiter der klinischen Corona-Impfstoffstudien der Tübinger Firma CureVac zur Impfstoffentwicklung zu sagen hat, lesen Sie hier:

"Die meisten Kandidaten werden nur eine Idee bleiben"