Wissenschaft berät Politik

(03.11.2020) Warum haben wir nicht versucht, systematisch die fehlende Evidenz zum bestmöglichen Umgang mit der Corona-Pandemie zu generieren?
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Editorial

Trotz mittler­weile wieder stark steigender Fallzahlen und der Angst vor einem zweiten Lockdown freuen wir uns in Deutschland zu Recht, dass wir bisher deutlich besser durch die Corona-Krise gekommen sind als viele unserer Nachbarn oder auch die USA. War der „deutsche Weg“ vielleicht gar deshalb so erfolgreich, weil die Politik hierzu­lande ein offenes Ohr für die Wissen­schaft hatte – und deshalb evidenz­basiert die richtigen Maß­nahmen verordnet hat?

Das klingt zwar plausibel, doch leider gibt es gerade dafür wenig Evidenz. Vielmehr hat die Wissen­schaft bisher kaum belastbare Erkennt­nisse geliefert, ob und welche Maßnahmen (z. B. der Lockdown) und Szenarien (z. B. ein funktio­nierendes und gut vorbe­reitetes Gesund­heitssystem) tatsäch­lich wirksam waren. Das ist tragisch und wirft eher kein gutes Licht auf die Wissen­schaft. Denn gerade dieses Wissen würde uns nun wichtige Argumente liefern, was wir tun und was wir besser lassen sollten, um in Herbst und Winter die Intensiv­stationen nicht über­laufen zu lassen – und uns dabei gleich­zeitig ein möglichst normales Leben zu gewähr­leisten.

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Bei näherem Hinsehen wird man sogar fest­stellen müssen, dass es ja auch gar keine evidenz­basierte Beratung der Politik durch die Wissen­schaft gegeben hat. Aber halt – haben wir nicht einen Christian Drosten, der die Politik berät und zudem noch Wissen­schaft in die Breite kommu­niziert wie noch keiner zuvor? Dazu eine Physikerin als Kanzlerin, die wichtige Treffen mit den Minister­präsidenten auch schon mal mit Impuls­vorträgen von Epidemiologen einleitet. Und überdies einen Gesund­heitsminister, der zwar von der Ausbildung her Bank­kaufmann ist, aber rational argu­mentiert und einer Beratung durch die Wissenschaft gegenüber aufge­schlossen scheint? Reicht das nicht? Ich fürchte: Nein!

Ohne Ausnahme betonen Politiker in allen Ländern, von Albanien bis Zypern (USA eingeschlossen), dass ihre Corona-Maßnahmen auf „best available science“ beruhen. Aber wer entscheidet denn, welches diese beste verfügbare wissen­schaftliche Evidenz im Einzelfall sein soll? Natürlich die Politik selbst. Schließlich folgen die Bewertung, Priori­sierung und Verwendung wissen­schaftlicher Evidenz stets einem politischen Kalkül – also unter Einbe­ziehung anderer staatlicher Interessen wie beispiels­weise dem Funktio­nieren der Wirtschaft. Und dazu kommt natürlich immer auch der Blick auf die Wahl­barometer. Man könnte das Ganze also frei nach Darwin als „Political selection: The survival of the ideas that fit“ bezeichnen.

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Außerdem, wie identifiziert man denn die best available science insbesondere in Zeiten, in denen der schon vorher beein­druckende wissen­schaftliche Müllberg durch „Covidi­zation“ noch weiter anschwillt? In denen durch die Inflation von hastig produzierten, teilweise per Presse­konferenz kommunizierten Ergebnissen eine Trennung von Signal und Rauschen immer schwerer wird – und Evidenz­synthese schon deswegen zum Scheitern verurteilt ist. Denn wo man Müll oben reinsteckt, kommt unten auch wieder Müll raus.

Dies wird auch begünstigt durch einen Research Exceptio­nalism, der sich in den letzten Monaten rasant ausge­breitet hat – und dessen Maxime lautet: In Zeiten einer Pandemie sind schlechte Daten besser als keine Daten. Und so testen derzeit mehr als tausend klinische Studien, welche Therapien gegen COVID-19 helfen könnten – Tendenz expo­nentiell steigend. Die meisten dieser Studien werden allerdings nie brauchbare Resultate liefern – aber davon im nächsten Wissen­schaftsnarren mehr...

Hier fragen wir uns erstmal lieber: Wie müsste denn Politik­beratung durch die beste verfüg­bare wissen­schaftliche Evidenz überhaupt aussehen, um robuste Entschei­dungs­grundlagen für gesell­schaftliche Inter­ventionen gegen das Virus zu liefern? Sie müsste vier Prinzipien verpflichtet sein, von denen erschre­ckenderweise derzeit keine einzige Beachtung findet. Sie lauten: Inklusivität, Gründ­lichkeit, Transparenz und Zugäng­lichkeit.

Inklusivität bedeutet, dass alle verfügbaren Quellen von Evidenz und Expertise systematisch Berück­sichtigung finden müssen. Im konkreten Fall also nicht nur aus der Virologie, sondern auch aus der Epide­miologie, der Immuno­logie, der Hygiene – und natürlich auch aus relevanten nicht-biomedizinischen Domänen. Und die Qualität der vorhandenen Evidenz aus den entspre­chenden Studien muss mittels klar formulierter Validitäts­kriterien objektiv bewertet werden.

Gründlich wird die Beratung, wenn sie Limitationen, Verzer­rungen (Bias) und Interessen­konflikte, die der Wissens­basis zugrunde liegen, möglichst vollständig aufzeigt und diese minimiert.

Transparent ist wissen­schaftliche Politikberatung, wenn ihr Auftrag und ihre Aufgaben­stellung klar formuliert werden. Annahmen, Limitation, Unsicher­heiten, offene Fragen müssen klar heraus­gestellt werden. Potenzielle Konflikte, die persönlich, politisch, kommerziell oder organi­satorisch begründet sein können, müssen offengelegt und kontrolliert werden.

Zugänglich sind Beratungs­ergebnisse, wenn sie für alle frei verfügbar und in allgemein verständ­licher Sprache formuliert sind.

Klingt eigentlich alles einfach und einleuchtend. Aber funktioniert so etwas in  Zeiten einer potenziell massiven Bedrohung überhaupt? Insbesondere wenn alles ganz schnell gehen muss? Das gelänge vor allem dann, wenn man auf einen Notstand gut vorbereitet wäre, wie er zum Beispiel durch ein bisher unbekanntes Virus ausgelöst wird. Dann würden zumindest Strukturen existieren, die in kürzester Zeit die Etab­lierung eines solchen Beratungs­gremiums erlauben – natürlich jeweils angepasst an die Spezifika der aktuellen Bedrohung.

Außerdem könnte man mit einer akuten Evidenz­synthese beginnen, die zwar noch nicht allen oben genannten Kriterien entspräche, aber im Lauf der Zeit weiter optimiert würde. Bei Corona ist mittler­weile deutlich mehr als ein halbes Jahr vergangen – und noch nichts ist in dieser Richtung passiert.

Vielleicht werden Sie an dieser Stelle einwenden, dass wir all das doch schon haben. Experten, die sich äußern – wie Drosten, Streeck et al. Die nationale Akademie der Wissen­schaften (Leopoldina), die Empfeh­lungen formuliert. Dazu eine Vielzahl von Fachgesell­schaften und Organi­sationen mit wohl­meinenden Analysen und Vorschlägen. Ja, am Ende könnte man sogar befürchten, es gäbe zu viel und nicht zu wenig Politik­beratung. Allerdings folgt der momentan verfügbare Rat samt dessen Einfluss auf Entschei­dungen der Politik keinem der oben genannten Prinzipien. Er ist im Wesentlichen Eminenz-basiert, denn er kommt von „führenden Virologen“ oder einer „Nationalen Akademie“ – entstammt aber nicht aus einer systema­tischen Analyse.

Dabei bleibt völlig intransparent, welche Experten mit welchen Argumenten gehört wurden – und welche nicht. Welcher Wissen­schaftler oder welche Gruppierung hat wann und warum Zugang zur Politik? Welche Meinungen oder Befunde haben letztlich Eingang gefunden in politisches Handeln? Welches Wissen fehlt besonders dringend, und wo müsste systema­tischem Vorgehen und gezielten Studien daher Vorrang eingeräumt werden?

Aufgrund der gegen­wärtigen Intrans­parenz des Vorgehens kann daher auch nur vermutet werden, dass die Beratung nicht inklusiv war. Jedenfalls scheint durch, dass wesent­liche Gewerke der Wissen­schaft in diesem Diskurs – sollte es überhaupt einen gegeben haben – gar nicht beteiligt wurden. Und auch an der Gründ­lichkeit muss zumindest stark gezweifelt werden. Gerade was Robustheit, Kontrolle von Bias und Interessen­konflikte sowie dergleichen betrifft, hat zumindest die Biomedizin ja schon im Normal­betrieb ihre Schwierig­keiten.

Aber belegt der bisherige Verlauf der Pandemie in Deutschland – insbesondere im Vergleich zu anderen Industrie­nationen – nicht dennoch, dass Wissen­schaft und Politik hierzu­lande alles richtig gemacht haben?

Während der Narr über diesen Zeilen brütet, steigen die Infektions­zahlen in Deutschland so massiv wie anderswo. Gerade wurde bei uns eine Sperr­stunde eingeführt. Auf welcher Basis? Gehen die Leute dann aus den Kneipen nach Hause und stecken sich dort beim privaten Weiterfeiern an? Wird das Virus erst nach 23 Uhr besonders gefährlich? In den Medien treten Virologen auf, die diese Maßnahme mit dem Brustton der Überzeugung verurteilen – kurz darauf andere, die sie wieder verteidigen. Welche Evidenz gibt es zu solchen Maßnahmen? Wurde sie berück­sichtigt? Aufgrund welcher Evidenz beschließt man Beher­bergungsverbote? Schul­öffnungen? Schul­schließungen? Und so weiter…

Warum haben wir nicht syste­matisch versucht, die fehlende Evidenz in den zurück­liegenden Monaten zu generieren? Die Wirksamkeit einer Sperrstunde ist ein klassisches Beispiel für einen „Evidence Gap“ – also eine Lücke in der Beurteilung, die man zu schließen versucht, sobald man sie identifiziert hat. Das Gleiche gilt zum Beispiel für die Frage, was eigentlich passiert, wenn man Patienten nicht mehr in Kliniken aufnimmt und nach Hause schickt, um Betten für COVID-19-Erkrankte freizuhalten.

Vor acht Monaten war es noch besser­wisserisch, solche Fragen zu stellen. Schließlich wussten wir praktisch nichts über das Virus – seine Infektiosität, seine Morbidität und Mortalität oder die Ausbrei­tungsdynamik. Mittler­weile gibt es weltweit über 40 Millionen bestätigte Fälle und über eine Million Tote. Eine PubMed-Suche mit dem Term „COVID“ ergibt über 60.000 Treffer (Stand 10.10.2020). Rationale wissen­schaftliche Politik­beratung hätte viel früher die relevan­testen Wissens­lücken identi­fizieren müssen – und im gleichen Atemzug die Politik dazu drängen müssen, die entspre­chenden Mittel für deren Überwindung durch qualitativ hochwertige Forschung bereit­zustellen.

Es gibt wenige Hinweise darauf, dass sich in den kommenden Monaten doch noch eine evidenz­basierte, inklusive, gründliche, transparente sowie zugängliche wissen­schaftliche Beratung der Corona-Politik einstellen könnte. Dass so etwas möglich ist, beweist sehr schön das „Thesenpapier 4.0 zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19“ (der sogenannte „Schrappe Report“), das alle der genannten Kriterien erfüllt. Dieser war jedoch die private Initiative mehrerer Autoren – und findet daher keine Beachtung, weil sie eben keine „Nationale Corona-Evidenz-Task-Force“ ist.

Was bleibt ist die Hoffnung, dass spätestens nach dem Ende der Pandemie der Beschluss gefasst wird, für die nächste Krise – und die kommt bestimmt! – besser gerüstet zu sein. Hierzu werden dann beileibe nicht nur genug Masken und Beatmungs­geräte gehören. Sondern eine ganz grundlegende Neuorga­nisation des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik in Krisenzeiten.

Ulrich Dirnagl

Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj



Letzte Änderungen: 03.11.2020