Heikle Verwandtschaft
(02.11.2020) Die Familie des Rötelnvirus ist um zwei Mitglieder größer geworden. Dass diese in Tieren vorkommen, könnte eine Ausrottung der Röteln erschweren.
Röteln sind eine hochansteckende Infektionskrankheit, die durch einen Masern-ähnlichen Ausschlag, Fieber und Lymphknotenschwellungen gekennzeichnet ist. Besonders gefährlich sind Röteln im ersten Trimester der Schwangerschaft: Der Erreger – das Rubellavirus – kann die Plazentaschranke überwinden, das Ungeborene infizieren und zu Fehl- oder Totgeburten führen. Bei überlebenden Kindern kann das angeborene Rötelsyndrom dagegen schwere Folgen wie Hörverlust, Sehverlust, Herzerkrankungen oder andere Geburtsfehler verursachen.
In Deutschland wird die Rötelnimpfung ab dem Alter von einem Jahr von der Ständigen Impfkommission empfohlen. Doch obwohl ein sicherer und wirksamer Kombinationsimpfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln zur Verfügung steht, kommen immer noch weltweit jährlich etwa 100.000 Kinder mit angeborenem Rötelsyndrom zur Welt. In bestimmten Regionen wie dem westlichen Pazifik, der östlichen Mittelmeerregion und Afrika erkranken auch immer noch verhältnismäßig viele Kleinkinder. Die Weltgesundheitsorganisation hat es sich deshalb zum Ziel gesetzt, die Röteln durch flächendeckende Impfungen bis Ende des Jahres 2020 zumindest in Teilen der Erde auszurotten (Vaccine, 37(38):5754-61). Wie das Pockenvirus, bei dem dies bereits gelungen ist, ist das Rötelnvirus dafür prädestiniert: Zum einen existiert ein wirkungsvoller Impfstoff, zum anderen erkranken nur Menschen an Röteln, so dass der Erreger nicht in einem tierischen Wirt überdauern kann.
Wieder mal Fledermäuse
Genau hier gibt es aber Wissenslücken: Über die Herkunft und die Verwandtschaft des Rötelnvirus war bislang tatsächlich überhaupt nichts bekannt, denn es galt als einziges Mitglied der Virusfamilie Matonaviridae (Gattung Rubivirus) – und das, obwohl es bereits seit 1814 bekannt ist. Diese Tatsache hat sich jetzt schlagartig durch zwei Studien geändert, deren Ergebnisse gemeinsam in einer Nature-Veröffentlichung präsentiert wurden. Eine US-amerikanische und eine deutsche Forschergruppe haben jeweils ein neues Virus entdeckt, das nahe mit dem Rötelnerreger verwandt ist. Beide stammen aus Tieren.
Das Ruhuguvirus (nach Ruteete Subcounty, einer Region in Uganda, und dem Tooro-Wort obuhuguhugu für den Flügelschlag von Fledermäusen in einer Baumhöhle) isolierten Tony Goldberg und Mitarbeiter von der Universität Wisconsin-Madison im Kibale-Nationalpark in Uganda aus Zyklopen-Rundblattfledermäusen (Hipposideros cyclops). Diese Insektenfresser leben in Baumhöhlen vor allem im Tiefland-Regenwald von Senegal bis Tansania, können aber auch im Agrarland und damit in größerer Nähe zum Menschen vorkommen. Andrew Bennett, ehemaliger Doktorand von Goldberg und Erstautor der Veröffentlichung, konnte bei 10 von 20 gesunden Fledermäusen das Virus in Abstrichen der Mundschleimhaut nachweisen. Ob das Ruhuguvirus auch bei anderen Tieren vorkommt und ob bzw. welche Krankheitssymptome es auslösen kann, ist derzeit noch unbekannt.
Neuentdeckung im Norden
Das Rustrelavirus – benannt nach der Ähnlichkeit zum Rubellavirus und dem Fundort in der Nähe des Ostsee-Meeresarms Strelasund bei Stralsund – entdeckten die deutschen Forscher in einem kleinen Zoo, nachdem ihm drei Tiere zum Opfer gefallen waren. Diese – ein Esel, ein Capybara und ein Bennett-Känguru – zeigten Symptome einer akuten Enzephalitis, wie sie auch bei seltenen, schweren Verläufen einer Rötelninfektion auftreten kann. „Bei den verstorbenen Tieren wurde die höchste Genomlast des neuen Rustrelavirus im Zentralnervensystem gefunden und auch die Pathologie weist in die Richtung einer Gehirnentzündung“, so Martin Beer, Leiter des Instituts für Virusdiagnostik des Friedrich-Loeffler-Instituts auf der Insel Riems (Greifswald), der mit seinen Mitarbeitern für die Beschreibung des Virus verantwortlich zeichnet.
Da unterschiedliche Tierarten zu unterschiedlichen Zeitpunkten erkrankt waren, lag es nahe, dass sich alle Tiere bei einem Virusreservoir angesteckt hatten. „Generell sind Kleinsäuger wie Fledermäuse oder Nagetiere sehr gute Kandidaten für solche Virusreservoire. Da im betroffenen Zoo am ehesten Kontakt mit Nagern zu erwarten war, ist das der erste Schritt zur Suche des Reservoir-Wirtes gewesen“, erläutert Beer.
Tatsächlich wurden die Wissenschaftler schnell fündig. Sowohl auf dem Zoogelände selbst als auch in einem Umkreis von zehn Kilometern um den Zoo herum wurde die Hälfte aller untersuchten Gelbhalsmäuse (Apodemus flavicollis) positiv auf das Virus getestet. Da die Mäuse selbst keine Hinweise auf eine Erkrankung zeigten, handelt es sich vermutlich um das Reservoir, denn „Reservoir-Wirte erkranken in der Regel nicht an der entsprechenden Virusinfektion“, so Beer. Diese Vermutung wird dadurch erhärtet, dass auch aus Mäusen, die vor dem ersten Krankheitsfall im Zoo in der Region gesammelt worden waren, retrospektiv Virusgenom nachgewiesen werden konnte.
Große Ähnlichkeiten
Ein Vergleich mit dem Rötelnvirus zeigte, dass beide neu entdeckten Viren mit diesem eng verwandt sind, das Ruhugu- allerdings noch näher als das Rustrelavirus. Alle drei Viren besitzen ein einzelsträngiges RNA-Genom mit positiver Polarität in einem ikosaedrischen Kapsid, das von einer Hülle umgeben ist. Die drei Strukturproteine – das Kapsidprotein C und die beiden Hüllproteine E1 und E2 – sind in einem offenen Leserahmen codiert, ein zweiter offener Leserahmen enthält die beiden Nicht-Strukturproteine p90 und p150. Eine kurze intergenische Region trennt die beiden offenen Leserahmen.
Von besonderer Bedeutung ist das E1-Protein, das zu den Klasse-II-Fusionsproteinen gehört und damit die Fusion der Virushülle mit der Cytoplasma-Membran der Wirtszelle vermittelt. Damit diese Fusion möglich wird, muss sich beim Rötelnvirus ein Trimer aus E1-Proteinen bilden. Modelle legen nahe, dass dies auch bei den neuentdeckten Viren der Fall ist. Die Trimerbildung und damit die Infektion der Wirtszellen kann durch neutralisierende Antikörper verhindert werden. In dem entsprechenden Epitop unterscheiden sich das Rubella- und das Ruhuguvirus nur in einer Aminosäure, das Rubella- und das Rustrelavirus in immerhin fünf Aminosäuren. Diese große Ähnlichkeit in den B-Zell-Epitopen deutet darauf hin, dass serologische Tests für Röteln wahrscheinlich auch seine beiden Verwandten erkennen.
Neues Virus, neue Bedrohung?Ob die neuentdeckten Viren als Zoonosen auf Menschen übertragen werden können, ist noch spekulativ. Allerdings ist die Tatsache, dass das Rustrelavirus so unterschiedliche und nur entfernt verwandte Tiere wie einen Esel, ein in Südamerika heimisches Nagetier und ein Beuteltier infizieren kann, zumindest eine Warnung, diese Gefahr nicht zu unterschätzen.
Die aktuelle Coronavirus-Pandemie verdeutlicht, wie schnell ein noch unbekanntes Virus aus einem asymptomatischen Reservoir zu einer Bedrohung für den Menschen werden kann. Fledermäuse stehen hier von jeher im Verdacht, und die Gelbhalsmaus ist sowohl in Europa als auch in Asien weit verbreitet. Hinzu kommt, dass der Fund von Rötelnverwandten in Tieren die Frage aufwirft, ob auch das Rubellavirus möglicherweise ein unbekanntes Tierreservoir aufweist. Falls dies der Fall sein sollte, könnte die Ausrottung der Röteln plötzlich selbst vor dem Aus stehen.
Larissa TetschBennett A. et al. (2020):
Relatives of rubella virus in diverse mammals.
Nature, 586(7829):424-8
Foto: CDC/Erskine Palmer (Public Domain)