Ein sehr seltsames Protein
(26.10.2020) ACE2 gilt als Eintrittspforte für SARS-CoV-2. Eigentlich aber reguliert das Protein den Blutdruck und die Aminosäuren-Aufnahme, erklärt Michael Bader.
Im März dieses Jahres erlangte ein Protein Berühmtheit, das zuvor in erster Linie der Community der Bluthochdruck- und Herz-Kreislaufforscher bekannt war: ACE2. Selbst wer nichts mit Biologie, Proteinchemie oder Medizin am Hut hat, mag den Namen inzwischen aus Tagesthemen oder heute-journal kennen. Denn das Angiotensin-konvertierende Enzym 2, wie es mit vollem Namen heißt, ermöglicht dem neuartigen Coronavirus den Eintritt in die Zelle. Das macht sich auch in Fachjournalen bemerkbar: Von 1991 bis 2019 listet Pubmed 555 Publikationen, in deren Titel „ACE2“ erwähnt wird. Etwa genau so viele sind es allein im Jahr 2020 – und das ist nur der Stand bis Mitte Oktober.
Michael Bader erforscht ACE2 schon seit vielen Jahren und hat das Protein als vielseitiges Werkzeug kennengelernt, das noch immer ein paar Geheimnisse birgt. Bader ist einer der meistzitierten Nieren- und Hochdruckforscher unseres aktuellen Rankings und leitet die Arbeitsgruppe „Molekulare Biologie von Peptidhormonen“ am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin.
Laborjournal: Wir hatten Sie zunächst gar nicht berücksichtigt in unserer Publikationsanalyse zur Nieren- und Hochdruckforschung. Dann haben Sie uns darauf aufmerksam gemacht, dass Ihre AG an einem Sonderforschungsbereich (SFB 1365) zur Nierenprotektion mitwirkt und die Niere sehr wohl eines Ihrer besonderen Forschungsinteressen darstellt. Da sind Sie uns wohl irgendwie durchs Netz gerutscht.
Michael Bader: Wahrscheinlich, weil ich Hormone erforsche. Hormone kümmern sich nicht um einzelne Organe, und so falle ich oft durch alle Raster. Trotzdem sehe ich Herz-Kreislauf und die Niere als unsere Kernkompetenz. Aus dieser Richtung kommen wir ursprünglich, weil wir mit Angiotensin angefangen haben.
Wie hängen Angiotensin, Niere und Blutdruck zusammen?
Bader: Angiotensin ist eigentlich das zentrale Hormon zur Regulation des Blutdrucks und anderer Herz-Kreislauf-Phänomene. Wenn Sie heutzutage unter Hypertonie leiden, wird Ihnen Ihr Arzt mit ziemlicher Sicherheit entweder einen ACE-Hemmer verschreiben oder einen AT1-Antagonisten. Ein ACE-Hemmer blockiert die Herstellung des Angiotensin-Peptids. Ein AT1-Hemmer blockiert den Rezeptor, über den Angiotensin den Blutdruck erhöht. Beide Medikamente werden meist sehr gut vertragen und senken effizient den Blutdruck. Sie verhindern auch andere schädigende Effekte, die Angiotensin auf das Herz und auf die Niere ausüben kann. Da geht es dann um eine Wirkung direkt auf Zellen.
Angiotensin ist ein Peptidhormon, das aus einer Vorstufe zurechtgeschnitten wird. Dabei können auch Peptidvarianten entstehen, die den Blutdruck nicht erhöhen.
Bader: Ja. Als erstes entsteht Angiotensinogen – und das wird dann über eine proteolytische Kaskade bearbeitet. Angiotensinogen kommt aus der Leber und wird dann durch Renin aus der Niere gespalten. So entsteht zunächst Angiotensin I; das ist inaktiv und hat zehn Aminosäuren. Der klassische Weg läuft über ACE.
Wir sprechen jetzt also nicht von ACE2.
Bader: Richtig. Nicht ACE2, sondern ACE. Das ist ganz wichtig – viele Leute verwechseln die beiden! ACE kennt man schon seit fünfzig Jahren. Das macht aus dem Zehnerpeptid Angiotensin I das Achterpeptid Angiotensin II. Und Angiotensin II ist, wenn Sie so wollen, das „böse“ Peptid, das den AT1-Rezeptor aktiviert und so den Blutdruck erhöht. Diesen Effekt kann man, wie gesagt, über ACE-Hemmer oder AT1-Antagonisten in Schranken halten. Seit ungefähr zwanzig Jahren weiß man aber, dass es da noch mehr Peptide gibt. Nämlich Angiotensin(1-9) und Angiotensin(1-7). Diese beiden entstehen nicht durch ACE, sondern unter anderem durch ACE2.
Und die Peptide, die ACE2 aus Angiotensinogen herstellt, wirken anders?
Bader: Ja, Angiotensin(1-7) macht genau das Gegenteil von Angiotensin II. Unsere Gruppe konnte 2003 zeigen, dass Angiotensin(1-7) an Mas als Rezeptor bindet und diesen aktiviert (PNAS, 100(14): 8258-63). Über diesen Weg senkt Angiotensin(1-7) den Blutdruck und wirkt protektiv auf die Zellen in Niere und Herz. Bis jetzt gibt es aber noch keine zugelassenen Medikamente, die diese parallele Schiene beeinflussen.
Die Protease ACE2 macht aus Angiotensin I also kein Blutdruck-steigerndes, sondern ein Blutdruck-senkendes Peptid. Wie ist man darauf gestoßen, dass ACE2 so anders wirkt als ACE?
Bader: Es gibt ein Nature-Paper aus 2002, das schon nahelegt, dass in einer bestimmten Ratte mit Bluthochdruck ein fehlerhaftes ACE2 ursächlich mitverantwortlich ist für den Phänotyp (417: 822–28). Wir haben das 2008 mit unserer Gruppe auch noch mal bestätigt und gezeigt: Wenn man diesen Ratten wieder funktionierendes ACE2 als Transgen zurückgibt, senkt sich der Blutdruck (Hypertension, 52(5): 967-73). Es reicht schon, ACE2 bloß in Gefäßen zu erhöhen, um eine Blutdruckreduktion um 15 bis 20 Millimeter Quecksilbersäule zu erreichen. Das entspricht noch nicht komplett dem normalen Blutdruck, aber das war damals schon ein eindrucksvolles Ergebnis. Den endgültigen Beweis brachten erst Knockout-Mäuse ohne ACE2. Die kommen nicht aus unserer Gruppe, aber wir arbeiten heute auch mit diesen Tieren.
Im Zusammenhang mit COVID-19 hört man jetzt, dass ACE2 ja von allen möglichen Zellen exprimiert wird – zum Beispiel in der Lunge und im Gehirn. Also kann das Protein ja nicht allein für die Blutdruckregulation da sein.
Bader: ACE2 ist wirklich ein sehr seltsames Protein. Zum einen eben, weil es in so vielen Organen exprimiert ist. Da spielen die alveolaren Typ-II-Zellen in der Lunge eine große Rolle für die Infektion mit SARS-CoV-2, doch keiner weiß so ganz genau, warum ACE2 da überhaupt vorkommt. Alles, was sonst noch an ACE2-Expression im Körper stattfindet, ist aber vielleicht gar nicht so relevant für COVID-19. Zumindest ist bislang wenig bekannt, inwiefern das Virus überhaupt Zellen im Körper befällt und im Blut auftaucht – außer vielleicht im Endstadium schwer erkrankter Patienten. Wahrscheinlich spielen Veränderungen des Immun- und des Koagulationssystems eine viel größere Rolle für diese Organschädigungen.
Dann gibt es aber noch einen ganz anderen Aspekt von ACE2: Es ist im Darmepithel stark exprimiert, wirkt dort aber nicht als Protease. Stattdessen hilft es, einen Aminosäure-Transporter an die Oberflächen der Zellen zu lotsen. Wenn ACE2 bei Knockout-Mäusen fehlt, fehlt also auch dieser Transporter auf den Zellen. Diese Tiere können dann bestimmte Aminosäuren wie Tryptophan nicht mehr aufnehmen. Diese Transporter-Störung ist beim Menschen als Hartnup-Krankheit bekannt. Es wird dann zum Beispiel auch zu wenig Serotonin produziert.
Und schließlich ist die Protease-Funktion nicht nur auf Angiotensin beschränkt, sondern ACE2 schneidet noch mindestens vier weitere Peptide – zum Beispiel bestimmte Kinine, woran wir auch schon lange forschen.
Es gibt von Ihnen eine aktuelle und frei zugängliche kurze Übersicht zu ACE2 (Nephrologe, 2020 Jul 15; 1-4). Dort findet man auch eine Skizze des ACE2-Moleküls. Nur der N-terminale Teil ist homolog zu ACE; der „hintere“ Abschnitt hingegen sieht ganz anders aus. Erklärt das die zusätzliche Funktion zum Lokalisieren des Aminosäure-Transporters?
Bader: Genau. Der erste Teil ist irgendwann in der Evolution fusioniert mit einem anderen Protein namens Collectrin. Collectrin steuert genau diese Aufnahme von Aminosäuren in der Niere, indem es den Transporter an die Oberfläche der Nierenzellen bringt. So werden dann Aminosäuren zurückgewonnen. Im Darm hingegen gibt es kein Collectrin, und dort übernimmt ACE2 diese Funktion. Ich glaube, derzeit ist niemandem klar, warum die Evolution diesen Weg gegangen ist. Lag irgendein Vorteil darin, die Protease-Funktion und die Funktion zum Transport miteinander zu fusionieren? Oder war das einfach Zufall? Tatsächlich gibt es ein paar Hinweise darauf, dass ACE2 auch intern noch zwischen beiden Enden kommuniziert und dort Phosphorylierungen am C-terminalen Collectrin-Teil stattfinden, wenn der N-terminale ACE2-homologe Teil Substrat bindet. Dann würden beide Enden nicht völlig unabhängig voneinander agieren. Aber das sind derzeit noch Spekulationen. Und gerade im Zusammenhang mit dem laufenden SFB sind noch ganz viele Fragen zu ACE2 offen, denen wir jetzt nachgehen wollen.
Das Gespräch führte Mario Rembold
Bild: Emw - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 (ACE2) & David Ausserhofer/MDC (M. Bader)