Was bedeuten SARS-CoV-2-Mutationen?

(20.10.2020) Mutationen können das Infektions­verhalten von SARS-CoV-2 verändern. Deshalb beobachten Forscher genau, was sich in den RNA-Genomen der Viren tut.
editorial_bild

Editorial

Das neuartige SARS-Coronavirus Nummer 2 ist weltweit unterwegs und sammelt dabei kontinuierlich Mutationen. Nach der blanken Theorie sollte ein Virus im Laufe seiner Existenz immer weniger gefährlich werden und sich somit seinem Wirt umso besser anpassen. „Das ist aber mehr eine Theorie, als dass es dafür wissen­schaftliche Beweise gibt“, erklärte Isabella Eckerle von der Universität Genf Ende September in einem ZDF-Interview. Ein Problem sei, dass man keine „Virus­fossilien“ habe, also nicht weit in die Evolution von Viren zurück­schauen könne. Natürliche Selektion und zufälliger Gendrift beziehungs­weise Genshift, aber auch der Zufall oder geogra­fische Gegeben­heiten sind Faktoren, die die Verbreitung von Mutationen in den Genomen human­pathogener Viren unterstützen.

Ob und inwieweit sich Mutationen auf die Infektio­sität des Virus und dessen Patho­genität auswirken, muss also für jede Genom-Verän­derung einzeln untersucht werden. Zwei Varianten im SARS-CoV-2-Genom weckten bei den Beobachtern besonderes Interesse: die D614G-Mutation an der Position 23.403 sowie eine größere Deletion an der Grenze der Open Reading Frames ORF7b und ORF8.

Editorial

Alarmierende Ausbreitung

D614G ist ein Tausch von Alanin zu Glycin in einer Untereinheit des Spike-Proteins. Dieses Protein ist in Säuge­tierzellen für die Bindung an den ACE2-Rezeptor nötig. Daher können Mutationen in diesem Protein die Bindungs­affinität und somit die Infektio­sität des Virus beeinflussen. D614G begann, sich weltweit „mit alarmie­render Geschwin­digkeit“ auszubreiten, wie Bette Korber, Spezialistin für HIV-Evolution, und Kollegen vom Los Alamos National Laboratory Anfang Mai in einem in bioRxiv publizierten Preprint-Paper schrieben (bioRxiv, DOI: 10.1101/2020.04.29.069054).

Allerdings ist die Prävalenz oder Ausbreitung einer Mutation für sich gesehen noch kein Indiz für eine Verän­derung hin zu mehr viraler Fitness und höherer Patho­genität. Ob und wie D614G die Eigen­schaften des Virus verändert, ist auch aktuell noch nicht geklärt. Auch Korber und Kollegen haben ihre Inter­pretation der Daten geändert und den anfäng­lichen Alarmismus gestrichen (Cell, 182: 812-27).

Editorial

Histidin statt Arginin

Kürzlich wurde in Schweden eine weitere Mutation im Spike-Protein gefunden: ein Austausch von Arginin (R) zu Histidin (H) an Position 23.463 der Virus-RNA (Microbiol. Resour. Announc, 9(35): e00934-20). Diese Aminosäure befindet sich auf der Oberfläche der S1-Unter­einheit des Spike-Proteins. Allerdings, so schreiben die Forscher, ändere der Austausch nichts am Bindungs­verhalten des Virus an den ACE2-Rezeptor der Wirtszelle. Trotzdem schließen sie einen Einfluss auf die Infektions­effizienz derzeit nicht aus.

Um herauszufinden, ob man überhaupt durch bestimmte Verän­derungen im Spike-Protein die SARS-CoV-2-Virulenz steigern kann, testeten Forscher vom Fred Hutchinson Cancer Research Center mit knapp viertausend Spike-Versionen jeweils auch die Bindung an den ACE2-Rezeptor (Cell, 182: 1295-1310). Die meisten Mutationen zeigten keine oder sogar negative Effekte, manche aber steigerten tatsächlich die Binde­affinität. Solche Varianten hatte man bereits bei Patienten gefunden, aber Anzeichen für eine positive Selektion fanden die Wissen­schaftler nicht.

Ungefährliche Deletion

Die bereits erwähnte 382 Nukleotide lange Deletion an der Grenze der Open Reading Frames ORF7b und ORF8 stellt dem­gegenüber natürlich eine ungleich größere Verän­derung dar. Sie wurde zuerst in Singapur und Taiwan entdeckt. Weitere, allerdings unter­schiedlich lange Deletionen im ORF7b/8, konkret zwischen Nukleotid 62 und 345, wurden danach auch in anderen Ländern gefunden (mBio, DOI: 10.1128/mBio.01610-20). Die Ergebnisse einer Nachfolge-Studie aus Singapur deuten darauf hin, dass die Deletion die Infektion milder verlaufen lässt und das Virus somit also womöglich weniger gefährlich ist (The Lancet, 396: 603-11).

Immerhin – und zu unser aller Glück – hat sich bisher keine Variante herauskristallisiert, die einen deutlich schwereren Krank­heitsverlauf von COVID-19 begünstigt. Leider ist aber auch noch keine Variante aufgetaucht, die harmlosere Infektionen verursacht. Alle bisher gefundenen Mutationen lokalisierte Isabella Eckerle im „Grundrauschen der Corona-Viren“.

Karin Hollricher

Bild: Pixabay/papazachariasa

Dieser hier gekürzte Artikel erschien in ausführlicherer Form zuerst im Laborjournal 10/2020.