Die Ziellinie im Blick?
(15.09.2020) Die Pharmabranche arbeitet intensiv an sicheren Corona-Vakzinen. Wird es innerhalb der nächsten Monate tatsächlich einen Schutz vor COVID-19 geben?
Im Durchschnitt dauert es 10,7 Jahre bis zur behördlichen Zulassung eines Impfstoffkandidaten (PLoS One, 8(3): e57755). Bisheriger Rekordhalter ist der Mumps-Impfstoff mit nur vier Jahren Entwicklungszeit. Eine SARS-CoV-2-Vakzine soll hingegen nach nur zwölf bis achtzehn Monaten Entwicklungszeit zur Verfügung stehen. Dieses ehrgeizige Ziel verfolgen zweihundert Arbeitsgruppen in Universitäten, Forschungseinrichtungen und Biotech-Firmen. Eine Handvoll ihrer Impfstoffkandidaten hat es bereits in klinische Phase 3 geschafft.
AstraZenecas AZD1222 beispielsweise, für das der Pharmakonzern in Kooperation mit der Universität Oxford die DNA-Sequenz des SARS-CoV-2-Spike-Proteins (S) in den nicht replizierenden Adenovirus-Vektor ChAdOx1 einbrachte, wird seit Juni 2020 (mit kurzen Unterbrechungen) in Großbritannien, Brasilien und Südafrika getestet. Bereits ab Ende 2020 sollen bis zu 400 Millionen Dosen davon ausgeliefert werden.
Vektor mit S-Protein
Grünes Licht für Phase 3 erhielt ebenso CanSino Biologics’ Impfstoffkandidat Ad5-nCoV. Wie die meisten Mitbewerber enthält auch dessen Adenovirus-Vektor die genetische Information des S-Proteins. Tausende Freiwillige des chinesischen Militärs testen gegenwärtig dessen Effizienz.
Am 11. August verkündet derweil Russlands Präsident Wladimir Putin die „Registrierung“ (quasi eine Art Notfallzulassung) eines SARS-CoV-2-Impfstoffs mit dem Namen Sputnik V, beziehungsweise Gam-COVID-Vac. Der Vektorimpfstoff, entwickelt im Gamaleya-Institut in Moskau, soll laut seiner Registrierungsbescheinigung vom Gesundheitsministerium der Russischen Föderation am 1. Januar 2021 in den zivilen Verkehr eingeführt werden – obwohl umfangreiche Daten aus Phase-3-Studien fehlen (The Lancet, DOI: 10.1016/S0140-6736(20)31866-3) .
Der Vakzine-Kandidat mRNA-1273 der US-Biotech-Firma Moderna setzt dagegen auf in vitro transkribierte mRNA des S-Proteins, die als zelleigenes Botenmolekül getarnt die menschliche Proteinsynthese-Maschinerie kapern und Immunreaktionen auslösen soll. Auch dieser wird seit Ende Juli 2020 in einer klinische Phase-3-Studie evaluiert.
Einen ähnlichen mRNA-Impfstoff entwickelt auch BioNTech. Ugur Sahin, CEO der Mainzer Firma, erklärt, wie der jahrzehntelange Marathon der Impfstoffentwicklung auf ein 4-x-100-m-Staffelrennen reduziert wird: „Der Schlüssel heißt Parallelisierung. Wir entwickeln unser mRNA-Vakzin BNT162 in Rekordzeit, indem wir sicherstellen, dass der Entwicklungsprozess ununterbrochen mit maximaler Geschwindigkeit läuft.“
Sahin erläutert die zweite Stellschraube: „Falls unsere klinischen Studien erfolgreich sind, wollen wir in der Lage sein, große Mengen Impfstoff auszuliefern. Deshalb bauen wir in Kooperation mit Pfizer bereits jetzt unsere Herstellungskapazitäten aus. Wir glauben, dass mehr als zehn Milliarden Impfdosen weltweit nötig sind, um COVID-19 dauerhaft in den Griff zu bekommen.“
Keine Garantie
Rein logistisch könnte ein SARS-CoV-2-Impfstoff also 2021 zur Verfügung stehen. Dennoch dienen entsprechende Pressemitteilungen vielleicht weniger dem Gesundheitsschutz als den Aktieninhabern und Geldgebern. Denn allzu optimistische Prognosen übersehen den ausgeprägten Empirismus in der Impfstoffentwicklung. Einen einfachen Automatismus und eine Garantie auf einen Impfstoff bis zu irgendeinem Datum gibt es nicht.
Unsere effektivsten Impfungen gegen Infektionen durch RNA-Viren wie SARS-CoV-2 sind außerdem tri- und quadrivalente Vakzine, zum Beispiel gegen die saisonale Grippe. Selbst in Jahren, in denen sie zum zirkulierenden Virusstamm passen, schützen sie nur 10 bis 60 Prozent der geimpften Personen vor Erkrankung (siehe „Vaccine Effectiveness Estimates“ der Centers for Disease Control and Prevention). Sollten wir von Impfstoffen gegen andere respiratorische Pathologien höhere Wirksamkeiten erwarten?
Was ist mit Lebendimpfstoffen?
Verwunderlich ist, dass keine der klinischen Wirksamkeitsstudien außerhalb von China gegenwärtig analog attenuierte Coronaviren evaluiert. Dazu scheint noch zu wenig über die Pathologie von SARS-CoV-2 bekannt. Dennoch betont Klaus Überla, Direktor des Virologischen Instituts der Universität Erlangen und selbst federführend in der Entwicklung therapeutischer SARS-CoV-2-Antikörper: „Wir sollten diesen Ansatz nicht ignorieren. Ein Impfstoff aus abgeschwächten Viren wäre weniger aufwendig in der Massenproduktion als ein Totimpfstoff, selbst wenn wir ihn anfänglich gleichzeitig unter S3-Standards und GMP-Bedingungen herstellen müssen. Die größte Hürde ist demnach natürlich die Sicherheit dieses Ansatzes.“
Der Virologe Gerd Sutter von der LMU stellt den großen Zusammenhang her: „Kaum ein Impfstoff schützt vor Infektion, sondern nur vor Erkrankung. Immunität beruht auf einem komplexen Zusammenspiel verschiedener erlernter Immunantworten. Eine Impfung muss deshalb auch CD4+-T-Lymphozyten erzeugen, die bei einer Infektion zusammen mit Gedächtnis-B-Zellen die Antikörper-Produktion schnell aktivieren.“
Vielversprechende Antworten
Immerhin scheinen die aktuell getesteten Impfstoffkandidaten einer natürlichen Infektion bisher in nichts nachzustehen. So induziert beispielsweise AstraZenecas AZD1222 sowohl neutralisierende IgG-Antikörper wie auch eine T-Zell-Antwort (The Lancet, 396(10249):467-78). Zwei Impfungen mit Modernas mRNA-1273 im Abstand von 28 Tagen lösen die Produktion von Virus-neutralisierenden Antikörpern und schwache CD4+- und CD8+-T-Zell-Titer aus (NEJM, DOI: 10.1056/NEJMoa2022483). BioNTechs BNT162 erzeugt neutralisierende IgG-Titer und starke Th1-dominante CD4+- und CD8+-T-ÂÂZell-Antworten gegen sechzehn verschiedene Varianten der Rezeptor-Bindungsdomäne des SARS-CoV-2-S-Proteins.
Sutter resümiert: „Diese vielversprechenden Resultate sind noch kein Beweis, dass die Impfstoffkandidaten vor COVID-19 schützen. Aber ich bin optimistisch, dass Millionen Dosen sicherer Impfstoffe bis Ende nächsten Jahres produziert werden können.“
Henrik Müller
Foto: BioNTech
Dieser (hier gekürzte und aktualisierte) Artikel erschien zuerst in ausführlicherer Form in Laborjournal-Heft 9-2020.