Lebendige Körnchen

(02.07.2020) Vor 130 Jahren beschrieb ein recht unbekannter Histologe „Elementar­organismen“ in der Zelle. Heute besser bekannt als „Mitochondrien“.
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Editorial

Allein im letzten Jahr veröffentlichten Wissen­schaftler fast 19.000 Publikationen, in denen es auf die ein oder andere Weise um Mitochondrien ging. Mitochondrien gehören zur Grund­ausstattung einer eukary­otischen Zelle (abgesehen von roten Blutkörperchen) und versorgen diese mit Energie. So weit, so bekannt. Wer aber hat sie entdeckt, diese kleinen, lebens­wichtigen Organellen?

Ein gewisser Richard Altmann. Noch nie gehört? Schade, denn vieles, was er theoretisch über seine Beobachtung schrieb, sollte sich Jahrzehnte später als richtig heraus­stellen. Geboren wurde Altmann 1852 im preußischen Deutsch Eylau (heute: Ilawa, Polen). Über seine Kinder- und Jugendzeit ist nicht viel bekannt. Als Erwachsener studierte er Medizin in Greifswald, Königsberg, Marburg und Gießen. 1879 trat er eine Assistenten­stelle am Anatomischen Institut in Leipzig an, bereits 1880 wurde er dort Prosektor und 1887 – auf Empfehlung des Fakultätsrats – außer­ordentlicher Professor für mikrosko­pische Anatomie. Im Empfehlungs­brief des Fakultätsrats an das zuständige Ministerium wird Altmann als „Genie in der mikroskopischen Technik und Erfinder neuer Methoden der histologischen Technik, speziell der Färbung und Einbettung“ beschrieben.

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Nur Einlagerungen?

Genau diese mikro­skopischen und histo­logischen Fähigkeiten ermöglichten Altmann die Entdeckung der Zellorganelle als solche. Denn dass neben dem Zellkern noch andere Strukturen („Körnchen“) im Cytoplasma vorkommen, hatten auch schon andere Wissen­schaftler erkannt. Allerdings glaubten sie nicht, dass diese eine Funktion in der Zelle hätten. Man hielt sie für kristalline oder amorphe feste Ausscheidungen oder cyto­plasmatische Einla­gerungen unlöslicher Substanzen.

Altmann zeigte zunächst mit seinen selbst­entwickelten Methoden, dass diese Körnchen oder Granula weit­verbreitet sind: „Dagegen kann man sich von der Existenz der Granula in allen Zellen­gattungen überzeugen. Selbst jene Zellkörper, welche scheinbar ganz hyalin sind, zeigen mit Hilfe geeigneter Reactionen diese Elemente, wenn auch vielleicht nur in kleiner Form, und bedarf es nur des Ausgleichs der Brechungs­unterschiede, um jedes Körner­plasma im ungefärbten frischen Zustande hyalin erscheinen zu lassen“, schreibt er in seinem 1890 erschienenen Werk „Die Elementar­organismen und ihre Beziehungen zu den Zellen“.

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Gewisse Ähnlichkeiten

Nicht nur, dass Altmann diese neuartigen Organellen aufgespürt, sichtbar gemacht hatte. Sie erinnerten ihn auch an etwas. Nämlich an Mikro­organismen (Hallo, Endo­symbionten-Theorie!). „Die Elementar­körnchen der Zellen, welche noch heute ihre analogen Vertreter in den Mikro­organismen haben und welche seit jenen Perioden in den Zellen existiren, vermögen nicht mehr selbst­ständige Lebewesen zu werden“, heißt es dazu in seinem Werk. Damit hauchte er den angeblich leblosen Körnchen eben jenes Leben ein und taufte sie entsprechend „Bioblasten“. „Die Bioblasten dagegen sind als morpho­logische Einheiten der lebenden Materie sichtbare Elemente; sie bilden als diese Einheiten die wahren Elementar­organismen der belebten Welt,“ schlussfolgert Altmann.

Aus dem „Bioblasten“ wurde erst acht Jahre später durch den Berliner Mediziner Carl Benda das „Mitochondrion“, von Mitos für „Faden“ und -chondrion für „Körnchen“ (hier tauchen die Altmannschen Granula auch wieder auf). Die Bezeichnung „Kraftwerk der Zelle“ kam übrigens erst in den späten 1950er Jahren auf. Der amerikanische Zellbiologe Philip Siekevitz hat so seinen Artikel in „Scientific American“ betitelt.

Heftige Kritik

Wie ging‘s nun aber mit Altmann weiter? Nicht alle Kollegen waren von seinen Ableitungen überzeugt. Besonders der amerikanische Embryologe und Anatom Franklin P. Mall, der damals ebenfalls in Leipzig in den Laboren von Wilhelm His und Carl Ludwig arbeitete, zweifelte und hielt Altmanns Granula wohl für Fixier­artefakte. Malls Kritik blieb wohl nicht nur auf sachlicher Ebene, er scheint Altmann auch persönlich angegriffen zu haben. So heißt es in einer Quelle: „he described Altmann and his mental state in a graphic way“. Altmann kam mit dieser Kritik nicht unbedingt klar und zog sich zurück. Es ist überliefert, dass er sich fortan meist durch die Hintertür ins Labor schlich und deshalb von einigen nur noch „Der Geist“ genannt wurde.

Vielleicht hatte zu diesem Zeitpunkt aber auch schon seine Krankheit eingesetzt, wegen der er ab 1894 vom Hochschul­dienst beurlaubt wurde und seine letzten Jahre in der Nerven­heilanstalt Hubertusburg verbrachte. Vermutlich hatte er sich mit Syphilis infiziert.

Obwohl selbst in Vergessenheit geraten, bleibt Altmanns Vermächtnis bis heute bestehen.

Kathleen Gransalke

Bild: OpenClipart-Vectors (Mitochondrium), Public Domain

Quellen:
From Bioblasts to Mitochondria: Ever Expanding Roles of Mitochondria in Cell Physiology. Front Physiol, 1:7
Die Elementarorganismen und ihre Beziehungen zu den Zellen. Leipzig, 1890
Historical background of research on mitochondria. J Histochem Cytochem, 1(4):183-7
Vergessene Anatomen: Richard Altmann, Ärzteblatt Sachsen 1/2016