„Wir hoffen auf Prädiktion statt Assoziation“

(29.06.2020) Können die Verhaltens­neurowissenschaften bei der Behandlung psychischer Erkrankungen helfen?, fragen wir Henrik Walter von der Charité.
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Editorial

Bei unseren Publikations­analysen zur Verhaltens­forschung haben wir ein eigenes Ranking für die Verhaltens­neurowissen­schaften. Hier zählt Henrik Walter zu den meistzitierten Köpfen. Sein Spezialgebiet ist die funktionelle Bildgebung. An der Berliner Charité leitet Walter den Forschungs­bereich Mind and Brain. Doch es ist gar nicht so leicht, klinisch brauchbare Erkenntnisse aus Hirndaten zu gewinnen, verrät er uns im Gespräch.

Laborjournal: In vielen Papern unter Ihrer Beteiligung gibt es eine Autoren­gruppe namens ENIGMA. Was hat es damit auf sich?
Henrik Walter: Das Akronym steht für Enhancing Neuro­imaging Genetics through Meta-Analysis. Einer der Schwerpunkte des Konsortiums ist, wie sich genetische Unter­schiede auf Hirn­funktionen auswirken. Außerdem wissen wir inzwischen: Die naive Vorstellung, dass man einen Menschen in den Scanner legt, ins Hirn schaut und dann weiß, was los ist, greift zu kurz. Es hat sich rausgestellt, dass sich viele der früheren Studien nicht replizieren lassen. Manche Befunde sind vielleicht nur deshalb zustande gekommen, weil man relativ kleine Probanden­gruppen hatte. Dieses Problem wollen wir mit ENIGMA umgehen, indem wir möglichst viele Daten aus aller Welt sammeln und damit dann Studien an großen Zahlen durchführen. Dann wird es interessant und wir bekommen robustere Befunde.

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Wenn Sie mit solch großen Datensätzen arbeiten, besteht dann nicht die Gefahr, dass im Ergebnis lediglich der kleinste gemeinsame Nenner herauskommt und sich interessante Befunde heraus­mitteln?
Walter: Das ist eine absolut richtige Schluss­folgerung. Wenn wir sehr viele Leute untersuchen, können wir nicht mehr so gut differenzieren. Eine neue Heraus­forderung bildgebender Neuro­forschung ist daher, auf der einen Seite zwar auf große Probanden­zahlen zurückgreifen zu können, um eben immer diesen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu finden. Anderer­seits aber brauchen wir neue statistische Ansätze, um wiederum Aussagen über Subgruppen oder idealer­weise sogar Einzel­personen treffen zu können. Die meisten Studien aus der klinischen Bildgebung sind immer noch Quer­schnitt­studien. Man schaut sich zwei oder drei Gruppen im Querschnitt an und ermittelt Unterschiede oder Assoziationen mit klinischen Merkmalen. Inzwischen interessieren wir uns vor allem für Längs­schnitt­studien, die den Verlauf einer Erkrankung abbilden. Wir hoffen, so auch Voraussagen treffen zu können. Also Prädiktion statt Assoziation. Dabei greifen wir zum Beispiel auf Machine-Learning-Methoden zurück, um statistisch zuverlässiger zu differenzieren (Prog Neuro­psycho­pharmacol Biol Psychiatry, 91: 113-21).

Was würden Sie gern besser voraussagen können?
Walter: Uns interessieren besonders Fragen mit klinischer Relevanz. Kann man zum Beispiel bei Menschen mit Depressions­diagnose vorhersagen, wer auf welche Therapien am ehesten anspricht? Können wir vorhersagen, ob ein Patient mit einer ersten depressiven Episode eine uni- oder bipolare Störung entwickelt? Oder können wir über Bildgebung oder Verhal­tenstest herausfinden, bei wem wir ein Medikament relativ gefahrlos absetzen können?

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Was haben Sie dazu bisher herausgefunden?
Walter: Noch nichts, was in die klinische Routine Eingang gefunden hätte. Langsam setzt sich die Einsicht durch, dass es weder die Depression, noch die Schizophrenie gibt, sondern viele Subgruppen mit unter­schiedlicher Patho­physiologie. Um verlässliche Befunde zu finden, müssen wir also immer mehr Personen untersuchen. Uns interessieren dabei vor allem spezifische, klinisch relevante Fragen. In einem Projekt namens AiDA etwa haben wir erforscht, bei welchen Patienten man ein Anti­depressivum wieder absetzen kann – das wollen wir nämlich nur bei einem niedrigen Rückfall­risiko.

Und Sie hoffen, dieses Rückfallrisiko im MRT zu erkennen?
Walter: Wir haben dazu nun eine erste viel­versprechende Publikation. Dieses Ergebnis bezieht sich aber nicht auf Bildgebungs­befunde, sondern auf ein Verhaltens­experiment. Der Proband spielt ein Gewinnspiel, bei dem er Einsatz, Gewinn und Anstrengung gegen­einander abwägen muss. Wir nennen das Effort-based decision-making. Über ein computa­tionales Modell errechnen wir dann die Wahrschein­lichkeit für einen Rückfall. Erstautorin dieser Arbeit ist Isabel Berwian (JAMA Psychiatry, 77(5): 513-22).

Der Patient spielt also in regelmäßigen Zeitabständen ein Spiel oder macht einen Verhaltenstest? Der Arzt sieht das Ergebnis und entscheidet, wie er die Therapie fortführt?
Walter: Ja, das wäre ein Beispiel. So etwas könnte man als App auf dem Smartphone anbieten, und es lässt sich natürlich sehr viel besser für die breite Masse hochskalieren als ein MRT-Verfahren. Deswegen sind wir sehr daran interessiert, unsere Bild­gebungs­untersuchnungen, wo immer möglich, auch mit einfachen Tests zu kombinieren. Also zunächst untersuche ich in Labor­experimenten das Gehirn und gleichzeitig das Verhalten erkrankter Personen und suche nach Zusammen­hängen. Später in der klinischen Anwendung setze ich dann nur noch das Verhalten ein.

Sind Depressionen oder andere psychische Erkrankungen denn wirklich Hirn­erkrankungen mit messbaren strukturellen Verän­derungen?
Walter: Depressionen sind auch Hirn­erkrankungen, aber in einem anderen Sinne als Alzheimer oder ein Schlaganfall. Letztere sind Vorgänge, die einmal losgetreten praktisch nur innerhalb des Gehirns ablaufen. Aber bei Depression oder Angst­störungen spielen Umwelt­faktoren eine wichtigere Rolle. Eine gewisse emotionale Verletz­lichkeit kann für den einen sogar ein Vorteil sein und das Gehirn besser funktionieren lassen, wenn er unter den richtigen Umwelt­einflüssen aufwächst und lebt. Wir können deshalb nicht erwarten, dass wir rein hirnbasierte Marker finden werden, auf denen klinisches Handeln basieren kann. Ein anderes Problem ist aber auch, dass unsere bildgebenden Methoden womöglich noch nicht gut genug sind. Zum Beispiel, wenn man sich Pädophilie anschaut: Das ist ein sehr stabiles Merkmal, man hat es oder hat es nicht.

Pädophilie ist also angeboren?
Walter: Das kann man so nicht sagen. Es ist ja auch möglich, dass die Weichen dafür im sehr frühen Kindesalter gelegt werden. Denken Sie an Ihre Mutter­sprache: Sie werden keine zweite Sprache jemals so gut beherrschen, dennoch ist Ihnen die Mutter­sprache ja nicht angeboren. Worauf ich aber hinaus will: Ich war mir sehr sicher, dass wir bei einem so stabilen Merkmal wie der Pädophilie irgendwelche stabilen Signaturen im Gehirn finden werden.

Und die konnten Sie nicht nachweisen?
Walter: Nicht so klar wie erwartet. Die meisten gefundenen Unterschiede bezogen sich nicht auf die sexuelle Präferenz, sondern darauf, ob eine Person mit pädophilen Präferenzen auch Täter war. Pädophilie als Präferenz ist nicht gleichzusetzen mit sexuellem Kindes­missbrauch. Nicht jeder pädophile Mensch wird zum Täter, und ungefähr die Hälfte der Täter bei Kindes­missbrauch sind gar nicht pädophil. Die Korrelationen bezogen sich aber vor allem auf pädophile Täter im Vergleich zu pädophilen Nicht-Tätern. Da ging es sowohl um strukturelle Unterschiede, aber auch um Empathie, moralische Urteils­fähigkeit und die Inhibitions­fähigkeit des Gehirns. Nun waren das alles aber nur Querschnitt­untersuchungen, und daher wissen wir noch nicht: Sind diese Auffälligkeiten nun Ursache oder Folge des Verhaltens?

Hierzu haben Sie eine Studie veröffentlicht, in der Sie schlussfolgern, dass man viele Facetten in Betracht ziehen müsse, wenn man Pädophilie als Präferenz einerseits und sexuelle Übergriffe auf Kinder andererseits neurobiologisch verstehen und sauber differenzieren will (J Abnorm Psychol, 128(5): 453-64). Wer eine pädophile Neigung hat, ohne das zu wollen – und ausreichende moralische Urteils­fähigkeit und Empathie mitbringt, der muss ja dann einen enormen Leidens­druck haben, oder?
Walter: Das stimmt. Sie müssen sich vorstellen, Sie hätten eine Neigung in sich, die Sie selber verurteilen, über die Sie mit niemandem sprechen können und die Sie niemals ausleben dürfen. Für diese Leute haben wir an der Charité übrigens auch eine Anlaufstelle. Das Projekt „Kein Täter werden“ wird vom Sexual­mediziner Klaus Beier geleitet. Das Team dort bietet Betroffenen Therapie an, damit sie nicht zum Täter werden.

Wenn man nun über Hirnscans oder eine Spiele-App Depressions­risiken oder vielleicht sogar pädophile Neigungen ermitteln könnte, dann birgt das doch auch gesell­schaftliche Probleme. Zum Beispiel, wenn der Arbeitgeber oder die Kranken­versicherung solche Tests verlangt.
Walter: Vollkommen richtig, und dieses Problem ist umso größer, je zuverlässiger solche Vorhersagen werden. Wissen­schaftlich und als Ärzte und Therapeuten würden wir uns natürlich eine hohe Vorhersage­fähigkeit wünschen. Aber diese ethischen Fragen stellen sich natürlich ebenfalls, und besonders klar wird das am Beispiel der Pädophilie.

Das Gespräch führte Mario Rembold

Foto: privat






Letzte Änderungen: 29.06.2020