Alles klar, oder nicht?

(04.06.2020) Nach viel Kritik hat Christian Drostens Gruppe eine neue Preprint-Version ihrer Viruslast-Studie bei SARS-CoV-2-infizierten Kindern und Erwachsenen veröffentlicht. Was hat sich geändert?
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Editorial

„Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht“ hatte die BILD am 26. Mai auf der Titelseite gegen die Arbeits­gruppe von Christian Drosten an der Charité geschimpft. Forscher und andere Medien sprangen dem Forscher zur Seite und bemängelten diese Art der Bericht­erstattung, die Drosten in großen Buchstaben an den Pranger stellte.

In aller Kürze, worum es eigentlich ging: Statistiker hatten die Berech­nungen in dem Paper „An analysis of SARS-CoV-2 viral load by patient age“ (Jones et al.) kritisiert. Dieses Paper der Drosten-Gruppe war ein Preprint, die Kritik war öffentlich in den Kommen­taren zu lesen. Dominik Liebl von der Universität Bonn und Leonhard Held von der Universität Zürich hatten ausführlich zur Auswertung der Daten Stellung genommen (die Manuskripte sind online bei OSF hier und hier). Zwei weitere Statistiker, nämlich Kevin McConway (Open University) und David Spiegelhalter (University of Cambridge, UK) forderten die Berliner Forscher auf, die Studie zurückzuziehen: „We show how inappropriate statistical analysis led to the authors’ unjustified conclusions: essentially, in spite of initially finding a statistically significant difference between subgroups, they made it disappear by doing so many additional and uninteresting comparisons. We recommend that the error is acknowledged and the paper is withdrawn from circulation.“

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Aus Konjunktiv wird Indikativ

Die Kritiker bemängelten die Art der Auswertung und damit auch die Schluss­folgerung, die die Forscher gezogen hatten. Die lautete nämlich: „Aufgrund dieser Ergebnisse müssen wir vor einer unbegrenzten Wieder­eröffnung von Schulen und Kindergärten in der gegen­wärtigen Situation warnen. Kinder könnten so infektiös wie Erwachsene sein.“

Aus dem Konjunktiv hatten nicht nur die BILD, sondern auch andere Medien allerdings einen Indikativ gemacht. Die FAZ schrieb: „Kinder sind genauso infektiös wie Erwachsene“. Ähnliches las und hörte man aus den Wissenschaftsredaktionen (!) von Spiegel und SWR. Die Tagesschau fügte dem wenigstens ein Fragezeichen hinzu.

Die Gruppe um Drosten zog nun einen weiteren Forscher hinzu, der in der zweiten Version auch als Autor genannt ist und der laut Drosten auch fundierte Kritik geübt hätte: Guido Biele vom Norwegian Institute of Public Health. Laut Beschrei­bung auf der Webseite kennt er sich mit „statistischer Modellierung“ aus.

Im Abstract der überarbeiteten Fassung – die aber auch nur ein Preprint ist – heißt es nun: „Based on these results and uncertainty about the remaining incidence, we recommend caution and careful monitoring during gradual lifting of non-pharmaceutical interventions. In particular, there is little evidence from the present study to support suggestions that children may not be as infectious as adults.“

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Mit doppelter Verneinung

Die Wissenschaftler empfehlen nun genaue Beobachtung der Schulen und Kitas. Die Beurteilung, ob Kinder so infektiös sind wie Erwachsene, hat sich aber prinzipiell nicht geändert – nur die Wortwahl ist eine andere. Statt „Kinder könnten so infektiös sein wie Erwachsene“ schreiben nun Jones et al. in doppelter Verneinung, die Studie liefere wenig Evidenz, dass Kinder nicht genauso infektiös seien wie Erwachsene.

Die Medien zitieren Drosten nun überwiegend korrekt. Aber ausgerechnet der Hausarzt digital schreibt weiterhin „Virologe bleibt bei seiner Aussage. Kinder so ansteckend wie Erwachsene“.

Sei’s drum: die kritischen Statistiker sind nun zufrieden, schreiben sie bei Twitter. Was aber nicht heißt, dass im Peer Review nicht doch noch Korrekturen vorgenommen werden müssen. Um das zu entscheiden, sind (auch Laborjournal-)Journalisten nicht ausreichend statistisch gebildet, das sollen dann die Experten entscheiden.

Was haben die Forscher denn nun geändert?

Sie differenzierten die Personen nach der Art der verwendeten PCR-Systeme: für die Analysen, die überwiegend im März, also in der frühen Phase des Pandemie-Geschehens stattgefunden hatten, war ein LightCycler 480II von Roche verwendet worden. In dieser Gruppe fanden die Forscher keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Viruslasten bei Kindern und Erwachsenen.

Bei der Gruppe, deren Proben überwiegend nach dem 18. März mit einem Roche cobas 6800/8800 untersucht worden waren, fanden sie einen kleinen, aber belastbaren („credible“) Unterschied zwischen jungen und älteren Menschen. Allerdings führen sie dies eher auf die Durchführung der Experimente denn auf tatsächliche Unterschiede in der Viruslast zurück.

Schauen wir uns mal Abbildung 4 und Abbildung 5 genauer an:

1. Die Gruppe der 0–9- bzw. 10–19-Jährigen ist sehr klein im Vergleich zu den Erwachsenen.
2. Irgendwelche Unterschiede müssen so klein sein, dass sie nicht wirklich auf den ersten Blick – ja nicht mal auf den zweiten – auffällig werden. Der besagte „belastbare“ Unterschied macht sich anscheinend erst in statistischen Tests bemerkbar.
3. Die Fehlerbalken sind vergleichsweise groß – was wohl nicht nur aus der Streuung, sondern auch aus der geringen Teilnehmerzahl resultiert.
4. Die y-Achse ist logarithmisch! Das heißt, große Unterschiede schrumpfen optisch auf der Achse. Dieser Punkt war schon in der ersten Version des Papers kritisiert worden – und wurde nicht geändert.

Geändert wurde aber die Einteilung der getesteten Personen nach Alter. Hier war moniert worden, dass ein paarweiser Vergleich von neun Alters­gruppen (à jeweils 10 Lebensjahre) zu Fehlschlüssen führen würde. In der neuen Version wurden die Vergleiche wie folgt vorgenommen: 0–9 versus alle Personen >9 Jahre, 0–9 vs >19 Jahren, 0–19 vs >19 Jahren. Warum? Diese Einteilung soll die Lebens­umstände der Personen besser widerspiegeln (z. B. Kinder ohne Sozialkontakte, weil die Schulen geschlossen waren versus Erwachsene, die einkaufen und/oder arbeiten gehen). Und sie spiegelt natürlich auch eher die Biologie wider, beispiels­weise ganz simpel die Größe des Rachen­raums und des Lungen­volumens von kleinen Kindern und Jugendlichen bzw. Erwachsenen.

Diese Publikation mit ihren Versionen, den Kommentaren und Argumen­tationen könnte mal ein prima Unterrichtsstoff für Seminare in Statistik und Public Health werden.

Zu schnell veröffentlicht?

Eines bleibt noch anzumerken: Preprint-Artikel sind gedacht, andere Forscher im Feld über die Ergebnisse zu informieren und sich kritisieren zu lassen. Und natürlich, um den Claim „Erster“ zu zementieren. Das ist auch völlig richtig so.

ABER: bei einem derart sensiblen Thema eine Studie, die deutliche Auswirkung auf das öffentliche Leben haben könnte (und das war ja wohl ganz klar), online zu stellen, hätte zuvor einer viel intensiveren Überprüfung bedurft, als man das vielleicht von anderen Publikationen gewohnt ist.

Diese Kritik muss sich die Drosten-Gruppe dann schon gefallen lassen, findet

Karin Hollricher

Foto: Pixabay/geralt