Wird das Virus die Wissenschaft verändern?

(28.04.2020) Die Coronakrise könnte eine neue Art kataly­sieren, wie wir künftig Wissenschaft machen werden. Tolle Ideen müssen aber in praktikable Formate überführt werden.
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Editorial

SARS-CoV-2 beschert der Wissenschaft dezeit den wohl größten Auftritt ihrer tausend­jährigen Geschichte. Nicht nur erklärt sie bis ins letzte molekulare Detail einen Vorgang, den man vor noch nicht allzu langer Zeit als Strafe Gottes für die Sünden des Menschen gehalten hätte. Sie macht überdies, obzwar noch mit gehöriger Ungenauigkeit, Vorhersagen über das, was geschehen könnte. Sie schafft Evidenz für die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie. Und natürlich am wichtigsten: Sie entwickelt mit Hochdruck Therapien für Erkrankte sowie Impfungen, die uns künftig vor dem Virus schützen sollen. Die Wissenschaft wird somit die Grundlage liefern, um uns gegen die nächste Pandemie zu rüsten.

Die Politik, die unter immensem Zeitdruck, mit marginaler Expertise sowie auf Basis noch recht schwacher und sich ständig wandelnder Evidenz Entschei­dungen treffen muss, hat dies erkannt – und ist so wissenschafts­hörig wie noch nie. Häufig betonen Wissenschaftler derzeit‚ doch „nur Wissenschaftler zu sein“ und die Politik „nur zu beraten“. De facto ist das aber nur die halbe Wahrheit, da die Politiker den Rat einzelner Wissenschaftler mehr oder weniger ad hoc und eins zu eins in Maßnahmen umsetzen, die entweder immenses Leid und Schaden verhindern – oder auch beides erzeugen könnten. Die Wissenschaft ist aus dem Elfenbein­turm herabgestiegen, und schon lastet eine schwere Verant­wortung auf ihr und ein paar wenigen ihrer Vertreter.

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Wie unter einem Brennglas optisch vergrößert und durch eine Zeitmaschine komprimiert, exponiert das Virus dabei zugleich gnadenlos die Schwächen und Stärken des gegenwärtigen Wissenschafts­systems. SARS-CoV-2 ist dabei, eine Vielzahl von Veränderungen zu katalysieren in der Art und Weise, wie wir Wissenschaft machen. Was plötzlich in den Fokus gerät, wird bereits seit etwa einem Jahrzehnt mit wachsender Intensität von den verschie­densten Stakeholdern diskutiert – und manches davon auch schon zaghaft implementiert. Der Wissen­schaftsnarr hatte in der Vergangenheit hier schon einiges davon aufgegriffen. Aber jetzt passiert alles auf einen Schlag.

Preprint-Server werden plötzlich zum entscheidenden Kommuni­kationsportal der Wissenschaft. Peer Review? Dauert viel zu lange, und hält die Wissenschaftler von der Arbeit ab – sie müssen doch forschen! Open Data, also die unmittelbare Bereitstellung von Originaldaten? Na klar – die anderen Wissenschaftler sollen ja nicht nur bereits gemachte Versuche und Analysen nachvollziehen können, sondern durch die Daten anderer schneller in ihrer eigenen Arbeit vorankommen.

Weiterhin geschehen Publikation von Manuskripten und Offenlegung von Daten nun häufig unter bewusster Aufgabe von Ansprüchen auf Verwertung in Form von Patent­anmeldungen. Schließlich würde das nicht nur zeitlichen Verzug bedeuten, sondern auch den Ausschluss anderer von möglicher­weise wichtigem Wissen. Geht gerade gar nicht!

Man kollaboriert wie noch nie: Gruppen, die sich vor kurzem noch aus Furcht, überholt zu werden, geradezu paranoid voreinander abgeschottet hatten, tauschen nun Protokolle, Reagenzien und Ergebnisse aus.

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Die Resultate der Forschung verschwinden auch nicht mehr hinter Bezahlschranken. Corona-Publikationen sind fast immer Open-Access – sogar in Journalen, die sich mit diesem Prinzip bisher noch nicht anfreunden konnten.

Regulatorische Behörden, in denen Forschungs­anträge traditionell viele Monate auf Bearbeitung warten mussten, genehmigen Experimente und Studien nun innerhalb von Tagen. Das Bundes­forschungs­ministerium stellt über Nacht 150 Millionen Euro für eine Vernetzung der universitäts­medizinischen Forschung in Deutschland zur Verfügung – Mittel, die vermutlich ebenfalls nicht über konventionelle und langwierige Antrags­verfahren vergeben werden.

Das alles ist so noch nie dagewesen. Es hat fast etwas Rauschhaftes.

Zugleich läuft die Wissenschafts­kommunikation auf Hochtouren, wird beachtet von allen Bevölkerungs­gruppen und erobert bisher wenig genutzte Formate. Allen voran der „Corona-Podcast“ des NDR mit Christian Drosten. Wann gab es das schon, dass Hundert­tausende über Wochen täglich dem Moment entgegenfiebern, an dem ein Wissenschaftler eine halbe Stunde lang die Prinzipien der PCR, die Komplexitäten des angeborenen und adaptiven Immunsystems sowie infektions­epidemio­logische Propädeutik wie Basis­reproduktions­zahl R0 und Serienlänge erklärt?

Und auch dabei wird ganz Prinzipielles über Wissenschaft kommuniziert: Dass sie immer etwas Unfertiges sein muss, dass ihre Ergebnisse von heute immer diejenigen von gestern über den Haufen werfen können. Das Ganze dann noch garniert mit praktischem Ratschlag für die Zukunft, wenn Lokale wieder offen haben: Das Bier dann besser aus der Flasche trinken – wegen der Viren!

Und die Anti-Vaxxer? Sind ganz schweigsam geworden – und hoffen auf eine Impfung.

Wir Wissenschaftler haben währenddessen tägliche Video­konferenzen mit Kollegen – mit Zoom, Teams, GoToMeeting, Skype. Bis vor kurzem noch gefürchtet, weil man aufgrund schlechter Audioqualität wenig mitkriegte und kaum vernünftig diskutieren konnte, da entweder keiner oder alle gleichzeitig etwas sagen wollten. Dazu war man selber abgelenkt durch die Möglichkeit, nebenbei E-Mails zu erledigen oder Manuskripte zu schreiben.

Nun zwingt das Virus einen, sich besser in die Technik und Bedienung der diversen Plattformen einzudenken. Ein Headset zu benutzen, sich zu konzentrieren und einer gewissen Etikette zu folgen. Und plötzlich stellt sich heraus, dass diese Video­konferenzen ganz hervorragend funktionieren können. Ja, dass manche davon sogar effektiver verlaufen, als wenn man im selben Raum säße. Teilnehmer werfen spontan Abbildungen in die Diskussion ein, im parallel laufenden Chat werden Links und Zitate geteilt. In einem Google Doc entsteht nebenbei live das Protokoll, jeder Teilnehmer kann sich daran beteiligen.

Unglaublich, wie viel Zeit und CO2 eingespart werden können, ohne die – wie sich nun herausstellt – unnötige Reisetätigkeit. Umwelt und Produktivität lassen danken! Selbst kleinere und mittelgroße Konferenzen mit mehreren hundert Teilnehmern werden virtuell abgehalten – und siehe da, es funktioniert ganz hervorragend! Vermutlich werden wir in Kürze ähnliche Effekte auch in der Lehre sehen.

Bedeutet all dies nun, dass wir nach Corona einen „Paradigmen­wechsel“ darin erleben werden, wie wir Wissenschaft betreiben – und wie diese wertgeschätzt und wahr­genommen wird? Transparenter, offener, kollaborativer, effektiver, CO2-neutraler, immer am Puls der Öffentlichkeit? Schön wär’s, aber leider spricht einiges dagegen. (Evgeny Bobrov hat etwa wichtige Argumente in seinem Blogbeitrag bei Elephant in the Lab aufgelistet.)

Schon einmal, anlässlich der Zika-Epidemie in Brasilien 2015 gab es eine gewisse Euphorie, dass die Wissenschaft nach der Krise viel offener sein werde. Aber vielleicht war Zika für viele von uns zu weit weg, und der Schock saß nicht tief genug. Nun geht es wieder um ein Virus. Rüttelt es uns nur deshalb stärker auf, weil wir nicht wie gewohnt weiterforschen können? Sobald wir aber wieder an der Bench stehen, und weil die wenigsten von uns Virologen sind, werden wir uns vielleicht bald nicht mehr an all die tollen Dinge erinnern. Kehren wir dann zur gewohnten Routine zurück?

Unklar ist auch, welche Auswirkungen der kometenhafte Aufstieg der Preprints haben wird. Auch der Peer Review verhindert nicht die Publikation fragwürdiger Studien. Es könnte aber vielleicht noch schlimmer kommen als es momentan schon ist: Wenn nämlich mit den Preprints ein Tsunami problematischer Studien auf den Markt geschwemmt würde, durchmischt mit Ausgezeich­netem und Mittel­mäßigem. Wie dann die Spreu vom Weizen trennen?

Bei den Corona-Preprints versuchen verschiedene Konsortien dies durch sogenannte „lebende systematische Reviews“ zu lösen. Mittels Text Mining und Machine-Learning-Algorithmen sowie einer darauf folgenden Qualitäts­kontrolle durch Experten bewerten und synthetisieren sie kontinuierlich die Evidenz im immer weiter anschwellenden Strom von Publikationen. Sollte dies Erfolg haben, könnte es auch auf andere Felder angewendet werden.

Und auch bei Open Data (OD) wird nicht alles Gold sein, was glänzt. Wie können wir sicherstellen, dass hier nicht Daten-Massengräber entstehen – nur des Labels „OD“ wegen? Die FAIRe (Findable-Usable-Inter­operable-Reusable) Hinterlegung von Daten ist alles andere als ein Kinderspiel – und überfordert schon jetzt viele Forscher.

Die „Neue Wissenschaft“ wird also nicht einfach vom Himmel fallen. Wir müssen an den neuen Formaten arbeiten, sie von tollen Ideen zu praktikablen Lösungen entwickeln. Herausfinden, was funktioniert – und was nicht. All dies wird auch zusätzliche Ressourcen benötigen, etwa in Form von Infrastruktur. Aber auch in Form von Training und Ausbildung – sowie ganz wichtig: in Form von Experten, die uns im täglichen Geschäft helfen, beispielsweise Data Stewards. Rechnen würde es sich allemal, denn wir würden mit einer vertrauens­würdigeren und nützlicheren Wissenschaft belohnt werden.

Die Krise kann durchaus Katalysator dafür sein. Aber es braucht Substrat und Kofaktoren, damit die Reaktions­geschwindigkeit zunimmt und die Ausbeute steigt.

Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj





Letzte Änderungen: 28.04.2020